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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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offen eingesteht; aber niemals läßt er sich dadurch verführen, von den höhern
Anforderungen der Wahrheit abzugehen. Er steht in die Schwächen jener
Zeit ebenso scharf, als in ihre Größe. Am deutlichsten wird die Art und
Weise werden, wie er die Beziehungen des Lebens auf die Kunst entwickelt,
wenn wir Uns an ein bestimmtes Beispiel halten. Er charakterisirt zunächst
denjenigen Stand, der in der ersten Periode des Mittelalters der Träger der
Bildung war.

Die Geistlichkeit bildete damals nicht in dem Sinne wie heute einen ein¬
zelnen Stand, sie umfaßte vielmehr die Stände mit Ausschluß des Waffen¬
amtes und der niedrigsten Stufe des Verkehrs. Eine Theilung der Arbeiten,
wie sie sich in civilisirten Zeiten naturgemäß bildet, war überall noch nicht
eingetreten; in den Schulen der Klöster und der Bischöfe wurden alle Künste
und Wissenschaften und selbst alle Handwerke gelehrt. Zu der Einsicht, daß
gewisse Leistungen besondere natürliche Anlagen forderten, daß derselbe Schüler
in einer Beziehung sehr sähig und dessen ungeachtet für andre Aufgaben un¬
brauchbar sein könne, war man noch nicht gelangt. Man unterrichtete daher
die Begabtern in allen Fächern, hielt den Gelehrten zu allem berufen und
nahm ihn für alles in Anspruch. Freilich machte sich die Verschiedenheit des
Talents immer geltend, viele bewiesen sich ohne Zweifel für künstlerische Ar¬
beiten ganz untüchtig, und es verstand sich von selbst, daß man, besonders bei
größern und wichtigern Unternehmungen sich nach dem Fähigsten und Bewähr¬
testen unter den Mitgliedern des Diöcesanklerus oder des Klosters umsah.
Allein schon wegen dieser Beschränkung auf einen engern Kreis konnte man
nicht sehr ängstlich wählen und sah jedenfalls mehr auf technische Kenntnisse
als auf einen geistigen Beruf. Daher finden wir fast kein Beispiels daß einer
der ausgezeichneten Männer nur in einer Kunst gerühmt wird; er umfaßt
meistens alle, ist Baumeister, Erzgießer, Bildner, Maler, auch wol Kalligraph,
Goldschmidt und sogar Orgelbauer, wirkt außerdem als Schulmann und
Gelehrter, als Prediger und Theolog, vereinigt zuweilen mit allen diesen Auf¬
gaben noch die des Arztes, des Staatsmanns und Juristen. Mehre der
Männer, welche als Leiter und Ausübende von Kunstschöpfungen genannt
werden, sind auch Rathgeber und Kanzler der Fürsten, begleiten sie auf ihren
Reisen, und bewegen sich überhaupt in. einem Chaos von Geschäften, deren
Bewältigung kaum begreiflich ist. Besonders in Deutschland sind die Beispiele
dieser Art sehr zahlreich, und werden durch die Größe des Reichs, die weite
Entfernung verschiedener gleichzeitiger Unternehmungen und durch das Wander¬
leben, welches diese Männer mit dem kaiserlichen Hose führten, um so auf¬
fallender. Es ist einleuchtend, daß eine solche Vielgeschäftigkeit mit dem künst¬
lerischen Beruf nicht wohl vereinbar war. Wenn auch, wie man voraussetzen
darf, diese hochgestellten, vielfach in Anspruch genommenen Männer die Aus-


offen eingesteht; aber niemals läßt er sich dadurch verführen, von den höhern
Anforderungen der Wahrheit abzugehen. Er steht in die Schwächen jener
Zeit ebenso scharf, als in ihre Größe. Am deutlichsten wird die Art und
Weise werden, wie er die Beziehungen des Lebens auf die Kunst entwickelt,
wenn wir Uns an ein bestimmtes Beispiel halten. Er charakterisirt zunächst
denjenigen Stand, der in der ersten Periode des Mittelalters der Träger der
Bildung war.

Die Geistlichkeit bildete damals nicht in dem Sinne wie heute einen ein¬
zelnen Stand, sie umfaßte vielmehr die Stände mit Ausschluß des Waffen¬
amtes und der niedrigsten Stufe des Verkehrs. Eine Theilung der Arbeiten,
wie sie sich in civilisirten Zeiten naturgemäß bildet, war überall noch nicht
eingetreten; in den Schulen der Klöster und der Bischöfe wurden alle Künste
und Wissenschaften und selbst alle Handwerke gelehrt. Zu der Einsicht, daß
gewisse Leistungen besondere natürliche Anlagen forderten, daß derselbe Schüler
in einer Beziehung sehr sähig und dessen ungeachtet für andre Aufgaben un¬
brauchbar sein könne, war man noch nicht gelangt. Man unterrichtete daher
die Begabtern in allen Fächern, hielt den Gelehrten zu allem berufen und
nahm ihn für alles in Anspruch. Freilich machte sich die Verschiedenheit des
Talents immer geltend, viele bewiesen sich ohne Zweifel für künstlerische Ar¬
beiten ganz untüchtig, und es verstand sich von selbst, daß man, besonders bei
größern und wichtigern Unternehmungen sich nach dem Fähigsten und Bewähr¬
testen unter den Mitgliedern des Diöcesanklerus oder des Klosters umsah.
Allein schon wegen dieser Beschränkung auf einen engern Kreis konnte man
nicht sehr ängstlich wählen und sah jedenfalls mehr auf technische Kenntnisse
als auf einen geistigen Beruf. Daher finden wir fast kein Beispiels daß einer
der ausgezeichneten Männer nur in einer Kunst gerühmt wird; er umfaßt
meistens alle, ist Baumeister, Erzgießer, Bildner, Maler, auch wol Kalligraph,
Goldschmidt und sogar Orgelbauer, wirkt außerdem als Schulmann und
Gelehrter, als Prediger und Theolog, vereinigt zuweilen mit allen diesen Auf¬
gaben noch die des Arztes, des Staatsmanns und Juristen. Mehre der
Männer, welche als Leiter und Ausübende von Kunstschöpfungen genannt
werden, sind auch Rathgeber und Kanzler der Fürsten, begleiten sie auf ihren
Reisen, und bewegen sich überhaupt in. einem Chaos von Geschäften, deren
Bewältigung kaum begreiflich ist. Besonders in Deutschland sind die Beispiele
dieser Art sehr zahlreich, und werden durch die Größe des Reichs, die weite
Entfernung verschiedener gleichzeitiger Unternehmungen und durch das Wander¬
leben, welches diese Männer mit dem kaiserlichen Hose führten, um so auf¬
fallender. Es ist einleuchtend, daß eine solche Vielgeschäftigkeit mit dem künst¬
lerischen Beruf nicht wohl vereinbar war. Wenn auch, wie man voraussetzen
darf, diese hochgestellten, vielfach in Anspruch genommenen Männer die Aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/214>, abgerufen am 23.07.2024.