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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Thatsache aufgeklärt, über die technische Bedeutung und den äußerlichen Zweck
mancher Bauform erhalten wir noch immer werthvolle Aufschlüsse, aber wir
haben bereits so viel kritisch gesichtetes, vollständiges Material, daß wir ohne
Bedenken eine Darstellung deö Ganzen unternehmen können. "Eine völlige
Erschöpfung des Materials," sagte Schnaase in der Vorrede zur zweiten Ab¬
theilung des vierten Bandes, "wird niemals gewonnen werden; die Geschichte
würde nie beginnen, wenn sie diese abwarten wollte. Sie darf und muß von
Bekannten auf Unbekanntes schließen, sie hat nicht das Recht, den vollkomme¬
nen mathematischen und juridischen Beweis des Thatsächlichen zu verlangen,
und in seiner Ermangelung zu schweigen. Die Chronologie selbst bedarf der
Geschichte, theils um Beweisregeln aus ihr zu entnehmen, theils um sich über
die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit einzelner Thatsachen aufzuklären.
Geschichte und Chronologie stehen im Zusammenhange, aber sie sind nicht
völlig identisch; die Chronologie ist nur das Mittel, nicht der Zweck. Sie ist
sogar nur ein Mittel, wie dies namentlich die Geschichte der romanischen
Kunst sehr deutlich ergibt, wo die Gruppirung verwandter Gebäude, die Be¬
grenzung der verschiedenen Bauschulen und die Feststellung ihrer Verhältnisse
unter sich und zu dem ganzen Lande, die Ermittlung ihrer localen Ursachen,
mit einem Worte das geographische Element, auch bei mangelhafter chro¬
nologischer Feststellung, schon eine ziemlich lebendige Anschauung von dem
künstlerischen Leben des Mittelalters gewährt. Die Geschichte steht über diesen
vorbereitenden Disciplinen; sie hat die Aufgabe, sich in den Geist der Zeiten
einzuleben, und erlangt dies nicht ausschließlich durch die Anhäufung des
Materials, sondern im geistigen Umgange und Verkehr mit der Vergangenheit."
"Auch bei jener ungenügenden Behandlung des chronologischen Details stehen
doch die weiteren Grenzen der Zeit ziemlich fest, und gestatten annähernde,
nach der Vergleichung benachbarter Monumente zu bildende Schlüsse. Wir
befinden uns mithin ungefähr in der Lage eines Menschen, der schon nahe
genug ist, um die Umrisse und den Gliederbau eines Gegenstandes vollständig
zu erkennen, und nur bei näherem Herantreten weitere Anschauung und pla¬
stische Details zu gewärtigen hat. Wir wissen jedenfalls über die Kunstent¬
wicklung des Mittelalters mindestens ebensoviel, wie über die der alten Welt,
und die Verschiedenheit besteht nur darin, daß wir von jener noch mehr zu
erfahren hoffen dürfen, als es bei dieser möglich sein wird."

Als ein drittes Moment ist ferner die allgemeine Verbreitung der Historisch-
Philosophischen Bildung aufzufassen, nicht blos, weil dadurch das Verhältniß
zwischen den Entwicklungen der verschiedenen Zweige des menschlichen Geistes
klarer herausgestellt wird, sondern weil man überhaupt den Begriff der orga¬
nischen Entwicklung nur aus der Praxis schöpft. So lange die politische
Geschichte nichts weiter enthielt, als eine chronologische Zusammenstellung ein-


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Thatsache aufgeklärt, über die technische Bedeutung und den äußerlichen Zweck
mancher Bauform erhalten wir noch immer werthvolle Aufschlüsse, aber wir
haben bereits so viel kritisch gesichtetes, vollständiges Material, daß wir ohne
Bedenken eine Darstellung deö Ganzen unternehmen können. „Eine völlige
Erschöpfung des Materials," sagte Schnaase in der Vorrede zur zweiten Ab¬
theilung des vierten Bandes, „wird niemals gewonnen werden; die Geschichte
würde nie beginnen, wenn sie diese abwarten wollte. Sie darf und muß von
Bekannten auf Unbekanntes schließen, sie hat nicht das Recht, den vollkomme¬
nen mathematischen und juridischen Beweis des Thatsächlichen zu verlangen,
und in seiner Ermangelung zu schweigen. Die Chronologie selbst bedarf der
Geschichte, theils um Beweisregeln aus ihr zu entnehmen, theils um sich über
die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit einzelner Thatsachen aufzuklären.
Geschichte und Chronologie stehen im Zusammenhange, aber sie sind nicht
völlig identisch; die Chronologie ist nur das Mittel, nicht der Zweck. Sie ist
sogar nur ein Mittel, wie dies namentlich die Geschichte der romanischen
Kunst sehr deutlich ergibt, wo die Gruppirung verwandter Gebäude, die Be¬
grenzung der verschiedenen Bauschulen und die Feststellung ihrer Verhältnisse
unter sich und zu dem ganzen Lande, die Ermittlung ihrer localen Ursachen,
mit einem Worte das geographische Element, auch bei mangelhafter chro¬
nologischer Feststellung, schon eine ziemlich lebendige Anschauung von dem
künstlerischen Leben des Mittelalters gewährt. Die Geschichte steht über diesen
vorbereitenden Disciplinen; sie hat die Aufgabe, sich in den Geist der Zeiten
einzuleben, und erlangt dies nicht ausschließlich durch die Anhäufung des
Materials, sondern im geistigen Umgange und Verkehr mit der Vergangenheit."
„Auch bei jener ungenügenden Behandlung des chronologischen Details stehen
doch die weiteren Grenzen der Zeit ziemlich fest, und gestatten annähernde,
nach der Vergleichung benachbarter Monumente zu bildende Schlüsse. Wir
befinden uns mithin ungefähr in der Lage eines Menschen, der schon nahe
genug ist, um die Umrisse und den Gliederbau eines Gegenstandes vollständig
zu erkennen, und nur bei näherem Herantreten weitere Anschauung und pla¬
stische Details zu gewärtigen hat. Wir wissen jedenfalls über die Kunstent¬
wicklung des Mittelalters mindestens ebensoviel, wie über die der alten Welt,
und die Verschiedenheit besteht nur darin, daß wir von jener noch mehr zu
erfahren hoffen dürfen, als es bei dieser möglich sein wird."

Als ein drittes Moment ist ferner die allgemeine Verbreitung der Historisch-
Philosophischen Bildung aufzufassen, nicht blos, weil dadurch das Verhältniß
zwischen den Entwicklungen der verschiedenen Zweige des menschlichen Geistes
klarer herausgestellt wird, sondern weil man überhaupt den Begriff der orga¬
nischen Entwicklung nur aus der Praxis schöpft. So lange die politische
Geschichte nichts weiter enthielt, als eine chronologische Zusammenstellung ein-


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[0211] Thatsache aufgeklärt, über die technische Bedeutung und den äußerlichen Zweck mancher Bauform erhalten wir noch immer werthvolle Aufschlüsse, aber wir haben bereits so viel kritisch gesichtetes, vollständiges Material, daß wir ohne Bedenken eine Darstellung deö Ganzen unternehmen können. „Eine völlige Erschöpfung des Materials," sagte Schnaase in der Vorrede zur zweiten Ab¬ theilung des vierten Bandes, „wird niemals gewonnen werden; die Geschichte würde nie beginnen, wenn sie diese abwarten wollte. Sie darf und muß von Bekannten auf Unbekanntes schließen, sie hat nicht das Recht, den vollkomme¬ nen mathematischen und juridischen Beweis des Thatsächlichen zu verlangen, und in seiner Ermangelung zu schweigen. Die Chronologie selbst bedarf der Geschichte, theils um Beweisregeln aus ihr zu entnehmen, theils um sich über die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit einzelner Thatsachen aufzuklären. Geschichte und Chronologie stehen im Zusammenhange, aber sie sind nicht völlig identisch; die Chronologie ist nur das Mittel, nicht der Zweck. Sie ist sogar nur ein Mittel, wie dies namentlich die Geschichte der romanischen Kunst sehr deutlich ergibt, wo die Gruppirung verwandter Gebäude, die Be¬ grenzung der verschiedenen Bauschulen und die Feststellung ihrer Verhältnisse unter sich und zu dem ganzen Lande, die Ermittlung ihrer localen Ursachen, mit einem Worte das geographische Element, auch bei mangelhafter chro¬ nologischer Feststellung, schon eine ziemlich lebendige Anschauung von dem künstlerischen Leben des Mittelalters gewährt. Die Geschichte steht über diesen vorbereitenden Disciplinen; sie hat die Aufgabe, sich in den Geist der Zeiten einzuleben, und erlangt dies nicht ausschließlich durch die Anhäufung des Materials, sondern im geistigen Umgange und Verkehr mit der Vergangenheit." „Auch bei jener ungenügenden Behandlung des chronologischen Details stehen doch die weiteren Grenzen der Zeit ziemlich fest, und gestatten annähernde, nach der Vergleichung benachbarter Monumente zu bildende Schlüsse. Wir befinden uns mithin ungefähr in der Lage eines Menschen, der schon nahe genug ist, um die Umrisse und den Gliederbau eines Gegenstandes vollständig zu erkennen, und nur bei näherem Herantreten weitere Anschauung und pla¬ stische Details zu gewärtigen hat. Wir wissen jedenfalls über die Kunstent¬ wicklung des Mittelalters mindestens ebensoviel, wie über die der alten Welt, und die Verschiedenheit besteht nur darin, daß wir von jener noch mehr zu erfahren hoffen dürfen, als es bei dieser möglich sein wird." Als ein drittes Moment ist ferner die allgemeine Verbreitung der Historisch- Philosophischen Bildung aufzufassen, nicht blos, weil dadurch das Verhältniß zwischen den Entwicklungen der verschiedenen Zweige des menschlichen Geistes klarer herausgestellt wird, sondern weil man überhaupt den Begriff der orga¬ nischen Entwicklung nur aus der Praxis schöpft. So lange die politische Geschichte nichts weiter enthielt, als eine chronologische Zusammenstellung ein- 26*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/211>, abgerufen am 23.07.2024.