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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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innewerden würde, daß er ohne den Norden nicht bestehe" kann. Ein Bruch
für immer aber ist unwahrscheinlich, so unwahrscheinlich wie ein ewiger Bestand
der Sklaverei in der Form, die sie jetzt hat.




Südmestdeutsche Briefe.
'V

In den letzten Tagen des August und den ersten des Septembers wurde
in Darmstadt ein "mittelrheinisches Musikfest" gefeiert, großartig, wohlgelungen,
von fast allen Musik- und Gesangvereinen des Mittelrheins reichlich beschickt,
von viel tausend Gästen des Rheinlandes bis Basel hinauf und bis Koblenz
hinab besucht. Mehre Zeitungen haben dasselbe lange vorher besprochen, in
sehr ausführlichen Schilderungen beschrieben, alles in allem mit einer Auf¬
merksamkeit behandelt, die vielleicht in der Ferne übertrieben erscheinen mochte.
Dennoch hat sie ihre guten Gründe, wenn man diese auch fast nirgend mit
klaren Worten bezeichnet findet. Im Publicum sprachen sie sich genugsam
aus; warum sollte man sich scheuen, sie zu wiederholen? Im ganzen Rhein¬
land": und namentlich in den mittelrhcinischen Kreisen ist der Drang nach
massenhaften geselligen Zusammenkünften stärker ausgebildet in den Mittel¬
schichten des Publicums, als sonst in einer deutscheu Landschaft, welche von
viele" politischen Grenzen durchschnitten wird. Lange ehe Deutschland von
nationalpolitischeil. Bewegungen erschüttert ward, hatten die Besuchsfahrten
einzelner Städte zueinander zu den heitersten, unbefangensten Vergnügungen
jedes Sommers gehört. Die Gesangvereine hatten sich dann meistens zum
Mittelpunkte dersc^'en gemacht, ohne irgend eine Ausschließlichkeit gegen frei¬
willige Theilnehmer auszuüben. Erst da seit -I8i0 politische Parteien sich all-
mälig zu sondern begannen oder eigentlich zum Bewußtsein bestimmterer Pro¬
gramme gelangten, waren hier und da die Besuchssahrer etwas exclusiver,
die Besuche selbst mitunter demonstrativer Natur. Dazu trat nach langen Be¬
mühungen klerikaler Eiferer endlich auch bisweilen eine confessionelle Abscheidung.
Zuletzt war, außer bei direct beabsichtigten Demonstrationen, schon vor 1848
wenig Theilnahme mehr für diese ursprünglich so wahrhaft volkstümlichen
Wanderfcste. Nur die Gesangvereine hielten noch daran fest.

Es ist bekannt, welchem Mißtrauen der Reaction alle Vereine und na¬
mentlich die musikalischen verfielen; bekannt, wie man sie hier und da
selbst mit großem polizeilichen Geräusch als staatsgefährlich auflöste, während
anderwärts wenigstens der Argwohn sie beobachtete. Je unbefangener Lust und
Veranlassung zur Theilnahme an denselben fortwährend bei der Mehrzahl ihrer


innewerden würde, daß er ohne den Norden nicht bestehe» kann. Ein Bruch
für immer aber ist unwahrscheinlich, so unwahrscheinlich wie ein ewiger Bestand
der Sklaverei in der Form, die sie jetzt hat.




Südmestdeutsche Briefe.
'V

In den letzten Tagen des August und den ersten des Septembers wurde
in Darmstadt ein „mittelrheinisches Musikfest" gefeiert, großartig, wohlgelungen,
von fast allen Musik- und Gesangvereinen des Mittelrheins reichlich beschickt,
von viel tausend Gästen des Rheinlandes bis Basel hinauf und bis Koblenz
hinab besucht. Mehre Zeitungen haben dasselbe lange vorher besprochen, in
sehr ausführlichen Schilderungen beschrieben, alles in allem mit einer Auf¬
merksamkeit behandelt, die vielleicht in der Ferne übertrieben erscheinen mochte.
Dennoch hat sie ihre guten Gründe, wenn man diese auch fast nirgend mit
klaren Worten bezeichnet findet. Im Publicum sprachen sie sich genugsam
aus; warum sollte man sich scheuen, sie zu wiederholen? Im ganzen Rhein¬
land«: und namentlich in den mittelrhcinischen Kreisen ist der Drang nach
massenhaften geselligen Zusammenkünften stärker ausgebildet in den Mittel¬
schichten des Publicums, als sonst in einer deutscheu Landschaft, welche von
viele« politischen Grenzen durchschnitten wird. Lange ehe Deutschland von
nationalpolitischeil. Bewegungen erschüttert ward, hatten die Besuchsfahrten
einzelner Städte zueinander zu den heitersten, unbefangensten Vergnügungen
jedes Sommers gehört. Die Gesangvereine hatten sich dann meistens zum
Mittelpunkte dersc^'en gemacht, ohne irgend eine Ausschließlichkeit gegen frei¬
willige Theilnehmer auszuüben. Erst da seit -I8i0 politische Parteien sich all-
mälig zu sondern begannen oder eigentlich zum Bewußtsein bestimmterer Pro¬
gramme gelangten, waren hier und da die Besuchssahrer etwas exclusiver,
die Besuche selbst mitunter demonstrativer Natur. Dazu trat nach langen Be¬
mühungen klerikaler Eiferer endlich auch bisweilen eine confessionelle Abscheidung.
Zuletzt war, außer bei direct beabsichtigten Demonstrationen, schon vor 1848
wenig Theilnahme mehr für diese ursprünglich so wahrhaft volkstümlichen
Wanderfcste. Nur die Gesangvereine hielten noch daran fest.

Es ist bekannt, welchem Mißtrauen der Reaction alle Vereine und na¬
mentlich die musikalischen verfielen; bekannt, wie man sie hier und da
selbst mit großem polizeilichen Geräusch als staatsgefährlich auflöste, während
anderwärts wenigstens der Argwohn sie beobachtete. Je unbefangener Lust und
Veranlassung zur Theilnahme an denselben fortwährend bei der Mehrzahl ihrer


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[0152] innewerden würde, daß er ohne den Norden nicht bestehe» kann. Ein Bruch für immer aber ist unwahrscheinlich, so unwahrscheinlich wie ein ewiger Bestand der Sklaverei in der Form, die sie jetzt hat. Südmestdeutsche Briefe. 'V In den letzten Tagen des August und den ersten des Septembers wurde in Darmstadt ein „mittelrheinisches Musikfest" gefeiert, großartig, wohlgelungen, von fast allen Musik- und Gesangvereinen des Mittelrheins reichlich beschickt, von viel tausend Gästen des Rheinlandes bis Basel hinauf und bis Koblenz hinab besucht. Mehre Zeitungen haben dasselbe lange vorher besprochen, in sehr ausführlichen Schilderungen beschrieben, alles in allem mit einer Auf¬ merksamkeit behandelt, die vielleicht in der Ferne übertrieben erscheinen mochte. Dennoch hat sie ihre guten Gründe, wenn man diese auch fast nirgend mit klaren Worten bezeichnet findet. Im Publicum sprachen sie sich genugsam aus; warum sollte man sich scheuen, sie zu wiederholen? Im ganzen Rhein¬ land«: und namentlich in den mittelrhcinischen Kreisen ist der Drang nach massenhaften geselligen Zusammenkünften stärker ausgebildet in den Mittel¬ schichten des Publicums, als sonst in einer deutscheu Landschaft, welche von viele« politischen Grenzen durchschnitten wird. Lange ehe Deutschland von nationalpolitischeil. Bewegungen erschüttert ward, hatten die Besuchsfahrten einzelner Städte zueinander zu den heitersten, unbefangensten Vergnügungen jedes Sommers gehört. Die Gesangvereine hatten sich dann meistens zum Mittelpunkte dersc^'en gemacht, ohne irgend eine Ausschließlichkeit gegen frei¬ willige Theilnehmer auszuüben. Erst da seit -I8i0 politische Parteien sich all- mälig zu sondern begannen oder eigentlich zum Bewußtsein bestimmterer Pro¬ gramme gelangten, waren hier und da die Besuchssahrer etwas exclusiver, die Besuche selbst mitunter demonstrativer Natur. Dazu trat nach langen Be¬ mühungen klerikaler Eiferer endlich auch bisweilen eine confessionelle Abscheidung. Zuletzt war, außer bei direct beabsichtigten Demonstrationen, schon vor 1848 wenig Theilnahme mehr für diese ursprünglich so wahrhaft volkstümlichen Wanderfcste. Nur die Gesangvereine hielten noch daran fest. Es ist bekannt, welchem Mißtrauen der Reaction alle Vereine und na¬ mentlich die musikalischen verfielen; bekannt, wie man sie hier und da selbst mit großem polizeilichen Geräusch als staatsgefährlich auflöste, während anderwärts wenigstens der Argwohn sie beobachtete. Je unbefangener Lust und Veranlassung zur Theilnahme an denselben fortwährend bei der Mehrzahl ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/152>, abgerufen am 23.07.2024.