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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Mitglieder geblieben war, desto mehr lichteten sich natürlich unter solchen Ver¬
hältnissen deren Reihen. Die meisten Vereine vegetirten fast nur noch; jedes
ihrer Feste ward durch das Bewußtsein aufs tiefste ernüchtert, daß Auf-
Passerei es beobachte; strenge musikalische Sonderlingen zerklüfteten die frühere
anspruchlose Gemeinsamkeit zu dilettantischer Kunstübung und etwas Zunft-
mäßiges schlich sich unvermerkt in das ganze musikalische Treiben. Daß
unter solchen Umständen auch die Zusammenkünfte einander benachbarter Ver¬
eine verkümmern mußten, die Theilnahme des nach allen Lebensrichtungen er¬
schlafften und gedrückten Publicums nicht angeregt werden konnte -- bedarf
es dafür weiterer Ausführungen? So blieb es lange, weit länger als am
Niederrhein.

Ms vor etwa drei Jahren in Mainz eines Sonntags von etwa 20 Sing-
vereinen ein Fest gefeiert wurde, fühlte sich das Publicum beinahe über¬
rascht, daß es noch so lebensfroh und unbefangen an der fast improvi-
sirten Zusammenkunft theilnahm. Seitdem hatte aber der orientalische Krieg
und die Theurung, hier und dort wol auch die noch immer nicht erstorbene
Polizeiangst vor jeder größer" Menschenversammlung keinen der wiederholten
Versuche zu vollem Gedeihen kommen lassen. Erst der Friede und seine mate¬
riellen Folgen ließen den Gedanken wieder lebhafter auffassen. Dennoch ge¬
schah es noch immer mit Zagen, als man in Darmstadt anfragte, welches
geographisch am bequemsten für ein allgemeines mitteirheinisches Fest gelegen
ist und zugleich die geräumigsten Loyalitäten für massenhafte musikalische Auf¬
führungen bietet. Ja, eS überraschte beinah, dnß dort nicht blos die Geneh¬
migung zur Abhaltung des Festes, sondern selbst manches fördernde Anerbieten
erfolgte. Wir haben den Gründen dieser unerwarteten Bereitwilligkeit nicht
nachzugehen. Genug, daS Musikfest gestaltete sich in jeder Beziehung nach
Wunsch und wird sehr wahrscheinlich den Anfang jährlich wiederkehrender
ähnlicher Versammlungen des mittelrheinischen Publicums bilden. Unterdessen
haben auch Wechselbesuche zwischen verschiedenen Städten der Rheinpfalz,
Nheinhessens und Nassaus wieder aufzuleben begonnen und scheinen mit der
öftern Wiederholung immer mehr Theilnahme zu finden.

Man mag fragen, was damit gewonnen sei? Die Wiederbelebung einer
Belustigung, die doch am Ende in ihrer Gemeinsamkeit aller Teilnehmer mehr
oder minder illusorisch bleibt, wenn man sich nicht um einen gemeinsamen
Mittelpunkt gruppirt, waS dann wieder den Besuchen eine bestimmte Färbung
gebe? Zunächst liegt in diesen' Erscheinungen ein erfreuliches Symptom des
Wiederaufwachens der alten rheinischen Lebenslust, die so tief daniedergedrückt
war. Und ist sie nicht schon an sich ein Lebensgewinn? Dann aber noch mehr.
Nämlich eine gesunde, absichtslose,-unbefangene Reaction gegen jene Elemente,
die im Widerspruche mit der Weltentwicklung die öffentlichen Interessen nach


Grenzboten. IV. 18os. 19

Mitglieder geblieben war, desto mehr lichteten sich natürlich unter solchen Ver¬
hältnissen deren Reihen. Die meisten Vereine vegetirten fast nur noch; jedes
ihrer Feste ward durch das Bewußtsein aufs tiefste ernüchtert, daß Auf-
Passerei es beobachte; strenge musikalische Sonderlingen zerklüfteten die frühere
anspruchlose Gemeinsamkeit zu dilettantischer Kunstübung und etwas Zunft-
mäßiges schlich sich unvermerkt in das ganze musikalische Treiben. Daß
unter solchen Umständen auch die Zusammenkünfte einander benachbarter Ver¬
eine verkümmern mußten, die Theilnahme des nach allen Lebensrichtungen er¬
schlafften und gedrückten Publicums nicht angeregt werden konnte — bedarf
es dafür weiterer Ausführungen? So blieb es lange, weit länger als am
Niederrhein.

Ms vor etwa drei Jahren in Mainz eines Sonntags von etwa 20 Sing-
vereinen ein Fest gefeiert wurde, fühlte sich das Publicum beinahe über¬
rascht, daß es noch so lebensfroh und unbefangen an der fast improvi-
sirten Zusammenkunft theilnahm. Seitdem hatte aber der orientalische Krieg
und die Theurung, hier und dort wol auch die noch immer nicht erstorbene
Polizeiangst vor jeder größer» Menschenversammlung keinen der wiederholten
Versuche zu vollem Gedeihen kommen lassen. Erst der Friede und seine mate¬
riellen Folgen ließen den Gedanken wieder lebhafter auffassen. Dennoch ge¬
schah es noch immer mit Zagen, als man in Darmstadt anfragte, welches
geographisch am bequemsten für ein allgemeines mitteirheinisches Fest gelegen
ist und zugleich die geräumigsten Loyalitäten für massenhafte musikalische Auf¬
führungen bietet. Ja, eS überraschte beinah, dnß dort nicht blos die Geneh¬
migung zur Abhaltung des Festes, sondern selbst manches fördernde Anerbieten
erfolgte. Wir haben den Gründen dieser unerwarteten Bereitwilligkeit nicht
nachzugehen. Genug, daS Musikfest gestaltete sich in jeder Beziehung nach
Wunsch und wird sehr wahrscheinlich den Anfang jährlich wiederkehrender
ähnlicher Versammlungen des mittelrheinischen Publicums bilden. Unterdessen
haben auch Wechselbesuche zwischen verschiedenen Städten der Rheinpfalz,
Nheinhessens und Nassaus wieder aufzuleben begonnen und scheinen mit der
öftern Wiederholung immer mehr Theilnahme zu finden.

Man mag fragen, was damit gewonnen sei? Die Wiederbelebung einer
Belustigung, die doch am Ende in ihrer Gemeinsamkeit aller Teilnehmer mehr
oder minder illusorisch bleibt, wenn man sich nicht um einen gemeinsamen
Mittelpunkt gruppirt, waS dann wieder den Besuchen eine bestimmte Färbung
gebe? Zunächst liegt in diesen' Erscheinungen ein erfreuliches Symptom des
Wiederaufwachens der alten rheinischen Lebenslust, die so tief daniedergedrückt
war. Und ist sie nicht schon an sich ein Lebensgewinn? Dann aber noch mehr.
Nämlich eine gesunde, absichtslose,-unbefangene Reaction gegen jene Elemente,
die im Widerspruche mit der Weltentwicklung die öffentlichen Interessen nach


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[0153] Mitglieder geblieben war, desto mehr lichteten sich natürlich unter solchen Ver¬ hältnissen deren Reihen. Die meisten Vereine vegetirten fast nur noch; jedes ihrer Feste ward durch das Bewußtsein aufs tiefste ernüchtert, daß Auf- Passerei es beobachte; strenge musikalische Sonderlingen zerklüfteten die frühere anspruchlose Gemeinsamkeit zu dilettantischer Kunstübung und etwas Zunft- mäßiges schlich sich unvermerkt in das ganze musikalische Treiben. Daß unter solchen Umständen auch die Zusammenkünfte einander benachbarter Ver¬ eine verkümmern mußten, die Theilnahme des nach allen Lebensrichtungen er¬ schlafften und gedrückten Publicums nicht angeregt werden konnte — bedarf es dafür weiterer Ausführungen? So blieb es lange, weit länger als am Niederrhein. Ms vor etwa drei Jahren in Mainz eines Sonntags von etwa 20 Sing- vereinen ein Fest gefeiert wurde, fühlte sich das Publicum beinahe über¬ rascht, daß es noch so lebensfroh und unbefangen an der fast improvi- sirten Zusammenkunft theilnahm. Seitdem hatte aber der orientalische Krieg und die Theurung, hier und dort wol auch die noch immer nicht erstorbene Polizeiangst vor jeder größer» Menschenversammlung keinen der wiederholten Versuche zu vollem Gedeihen kommen lassen. Erst der Friede und seine mate¬ riellen Folgen ließen den Gedanken wieder lebhafter auffassen. Dennoch ge¬ schah es noch immer mit Zagen, als man in Darmstadt anfragte, welches geographisch am bequemsten für ein allgemeines mitteirheinisches Fest gelegen ist und zugleich die geräumigsten Loyalitäten für massenhafte musikalische Auf¬ führungen bietet. Ja, eS überraschte beinah, dnß dort nicht blos die Geneh¬ migung zur Abhaltung des Festes, sondern selbst manches fördernde Anerbieten erfolgte. Wir haben den Gründen dieser unerwarteten Bereitwilligkeit nicht nachzugehen. Genug, daS Musikfest gestaltete sich in jeder Beziehung nach Wunsch und wird sehr wahrscheinlich den Anfang jährlich wiederkehrender ähnlicher Versammlungen des mittelrheinischen Publicums bilden. Unterdessen haben auch Wechselbesuche zwischen verschiedenen Städten der Rheinpfalz, Nheinhessens und Nassaus wieder aufzuleben begonnen und scheinen mit der öftern Wiederholung immer mehr Theilnahme zu finden. Man mag fragen, was damit gewonnen sei? Die Wiederbelebung einer Belustigung, die doch am Ende in ihrer Gemeinsamkeit aller Teilnehmer mehr oder minder illusorisch bleibt, wenn man sich nicht um einen gemeinsamen Mittelpunkt gruppirt, waS dann wieder den Besuchen eine bestimmte Färbung gebe? Zunächst liegt in diesen' Erscheinungen ein erfreuliches Symptom des Wiederaufwachens der alten rheinischen Lebenslust, die so tief daniedergedrückt war. Und ist sie nicht schon an sich ein Lebensgewinn? Dann aber noch mehr. Nämlich eine gesunde, absichtslose,-unbefangene Reaction gegen jene Elemente, die im Widerspruche mit der Weltentwicklung die öffentlichen Interessen nach Grenzboten. IV. 18os. 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/153>, abgerufen am 26.08.2024.