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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Bruders ein langes thätiges Leben, beide gehen schweigsam nebeneinander bis
in das Greisenalter.

Dieser Stoff hat dem Dichter viele Gelegenheit gegeben, die virtuosen
Eigenthümlichkeiten seines Talents zu bewähren. Das Handwerk des Schiefer¬
deckers ist zu schönen Ausführungen benutzt, um der Erzählung einen sichern
Hintergrund und Ruhepunkte und einzelnen Situationen glänzende Farbe zu
geben. Und geistvoll ist dieser Kreis von Schilderungen mit dem Faden der
Erzählung verbunden. Das Dach des Kirchthurms der Stadt ist die Stätte,
auf welcher die verhängnißvollsten Momente der Erzählung verlaufen, der
Thurm erhebt sich von den ersten Seiten der Erzählung wie im Mittelpunkt eines
Bildes, und sein Umriß wächst immer imponirender, bis das Auge des Lesers
um das Ende in der ängstlichsten Spannung hinaufstarrt. An ihm werden
die Stimmungen der Menschen geschildert, welche als Arbeiter um ihn hängen,
die Freiheit der Hohe, und die Freude am Wagniß des Kletterns und der
ruhige Stolz, die Gefahr zu verachten. Dann die Gefahren eines Falls, das
Seil, an welchem der Schieferdecker schwebt, kann durch Bubenhand angeschnitten
sein, oder ein Bret heimlich durchsägt, es kann gar einer den andern hin¬
unterstürzen, vielleicht der Vater den eignen Sohn. Dazu die Höllenangst
vor dem Fall, und das lähmende Zittern des Schwindels. Dann das Aergste
und Schwerste, was der Mensch durchmachen kann. Ein schweres Wetter
donnert um den Thurm, die Blitze stecken ihn in Flammen, und jetzt in der
Nacht, wo die Furie des Sturmes um das Dach tobt, und darinnen die
Flamme leckt, jetzt muß der Schieferdecker, um zu löschen und seine Stadt zu
retten, alle Schrecken des Todes überwinden, und alle Nuhe, die ihm der Tag
unten auf der Erde nicht gönnt, er braucht sie jetzt dort oben. Wie es in
solchen Stunden oben auf dem Thurm und in der Seele des muthigen Mannes
aussieht,, der aus ihm steht, das ist geschildert. Und diese Schilderungen sind
in ihrem Detail hinreißend, zuweilen etwas raffinirt, aber doch schön; denn sie
sind nicht nur sehr überlegt, sondern sie machen auch den Eindruck der Wahrheit.

Es ließ sich erwarten, daß Ludwig in den Charakteren seiner Helden
wieder vieles von der dramatischen Energie zeigen würde, welche ihm dieselben
im Kampfe mit finstern und übermächtigen Leidenschaften vorzugsweise interessant
macht. Am detaillirtesten ist das Gemüth deS schlechten Bruders dargestellt
und manche der zahlreichen Wandelungen sind vortrefflich gezeichnet, neben den
kühnen Strichen auch viele feine; aber im Ganzen ist die Darstellung des
sittlichen Verfalls eines schwachen Menschen doch eine sreudenarme Aufgabe
für den Künstler, welche, wo sie unvermeidlich ist, starke Gegensätze braucht
und gut contrastirende Farben. Auch Ludwig hat ein Gegenbild in der Frau
deö Verlorenen gefunden, welche sich allmälig von ihm löst, und dem Jugend¬
geliebten zuwendet und an diesem erst erfährt, was eine große Leidenschaft be-


Bruders ein langes thätiges Leben, beide gehen schweigsam nebeneinander bis
in das Greisenalter.

Dieser Stoff hat dem Dichter viele Gelegenheit gegeben, die virtuosen
Eigenthümlichkeiten seines Talents zu bewähren. Das Handwerk des Schiefer¬
deckers ist zu schönen Ausführungen benutzt, um der Erzählung einen sichern
Hintergrund und Ruhepunkte und einzelnen Situationen glänzende Farbe zu
geben. Und geistvoll ist dieser Kreis von Schilderungen mit dem Faden der
Erzählung verbunden. Das Dach des Kirchthurms der Stadt ist die Stätte,
auf welcher die verhängnißvollsten Momente der Erzählung verlaufen, der
Thurm erhebt sich von den ersten Seiten der Erzählung wie im Mittelpunkt eines
Bildes, und sein Umriß wächst immer imponirender, bis das Auge des Lesers
um das Ende in der ängstlichsten Spannung hinaufstarrt. An ihm werden
die Stimmungen der Menschen geschildert, welche als Arbeiter um ihn hängen,
die Freiheit der Hohe, und die Freude am Wagniß des Kletterns und der
ruhige Stolz, die Gefahr zu verachten. Dann die Gefahren eines Falls, das
Seil, an welchem der Schieferdecker schwebt, kann durch Bubenhand angeschnitten
sein, oder ein Bret heimlich durchsägt, es kann gar einer den andern hin¬
unterstürzen, vielleicht der Vater den eignen Sohn. Dazu die Höllenangst
vor dem Fall, und das lähmende Zittern des Schwindels. Dann das Aergste
und Schwerste, was der Mensch durchmachen kann. Ein schweres Wetter
donnert um den Thurm, die Blitze stecken ihn in Flammen, und jetzt in der
Nacht, wo die Furie des Sturmes um das Dach tobt, und darinnen die
Flamme leckt, jetzt muß der Schieferdecker, um zu löschen und seine Stadt zu
retten, alle Schrecken des Todes überwinden, und alle Nuhe, die ihm der Tag
unten auf der Erde nicht gönnt, er braucht sie jetzt dort oben. Wie es in
solchen Stunden oben auf dem Thurm und in der Seele des muthigen Mannes
aussieht,, der aus ihm steht, das ist geschildert. Und diese Schilderungen sind
in ihrem Detail hinreißend, zuweilen etwas raffinirt, aber doch schön; denn sie
sind nicht nur sehr überlegt, sondern sie machen auch den Eindruck der Wahrheit.

Es ließ sich erwarten, daß Ludwig in den Charakteren seiner Helden
wieder vieles von der dramatischen Energie zeigen würde, welche ihm dieselben
im Kampfe mit finstern und übermächtigen Leidenschaften vorzugsweise interessant
macht. Am detaillirtesten ist das Gemüth deS schlechten Bruders dargestellt
und manche der zahlreichen Wandelungen sind vortrefflich gezeichnet, neben den
kühnen Strichen auch viele feine; aber im Ganzen ist die Darstellung des
sittlichen Verfalls eines schwachen Menschen doch eine sreudenarme Aufgabe
für den Künstler, welche, wo sie unvermeidlich ist, starke Gegensätze braucht
und gut contrastirende Farben. Auch Ludwig hat ein Gegenbild in der Frau
deö Verlorenen gefunden, welche sich allmälig von ihm löst, und dem Jugend¬
geliebten zuwendet und an diesem erst erfährt, was eine große Leidenschaft be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/133>, abgerufen am 23.07.2024.