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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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schaftlich, ja mit überwältigender Macht stiegen seine Gestalten uno die ein¬
zelnen großen Situationen derselben in ihm ans, und sie stillen seine Seele zu
sehr mit der düstern und schwülen Luft, in welcher sie selbst athmen sollen.
Sein Schaffen erscheint so wie ein gewaltiges Ringen, welches ihm eher
Schmerzen macht, als Behagen. Auch wenn er nicht der Diener seiner Ge¬
waltigen wird, die Heiterkeit und den klaren Frieden vermißt man, und das
Ganze macht am Schluß vielleicht einen beängstigenden Eindruck, nach dem
Kampfe dämonischer Leidenschaften schwebt über der ausgebrannten Stätte ein
düsteres Grau.

Wenn auch in der neuen Erzählung ach Dichters diese Eigenthümlichkeit
seines Schaffens bemerkbar wird, so soll doch gleich hier gesagt werden, daß
die Novelle zu dem Bedeutendsten gehört, was in den letzten fünfundzwanzig
Jahren in dieser Gattung bei uns geschrieben wurde; und da dies nicht grade
viel sagen will, sei noch hinzugesetzt, daß sie zu aller Zeit für ein merkwür¬
diges und bedeutendes Werk gelten wird, denn es sind Schönheiten darin, die
kaum ein andrer deutscher Schriftsteller erreichen mag. Der Stoff ist sehr ein¬
fach. Die Erzählung verläuft in vier Charakteren einer Schieferdeckerfamilie,
und berichtet den Kampf zweier Brüder, von denen der eine, stark,, maßvoll,
pflichtgetreu, voll Selbstbeherrschung, von dem andern, einem neidischen,
gleißenden Gesell, voll unwahrer Gemüthlichkeit, in "der Jugend durch Lügen
um seine Geliebte betrogen und nach Ueberlistung eines knorrigen, herrsch¬
süchtigen Vaters in die Fremde getrieben wird. Der Getäuschte kommt
zurück als fertiger Mann, tritt in das Geschäft des Vaters ein und fin¬
det seine, Geliebte als Frau des Bruders und ihm feindlich abgeneigt. Durch
seine Tüchtigkeit im Geschäft demüthigt er, ohne zu wollen, den falschen
Bruder. Sein Wesen zieht die Jugendgeliebte nach harten Kämpfen zu ihm
hin, in dem Bruder aber, der ihn einst betrog und jetzt fürchtet, entwickelt
sich eine Reihe niedriger Leidenschaften, Neid, Eifersucht, zuletzt ein grimmiger,
tödtlicher Haß. Durch diese wird der Unselige allmälig so zerrüttet, daß er zu
dem furchtbaren Entschluß kommt, den Bruder bei der Arbeit vom Thurmdach
zu stürzen. Er aber findet bei dem frevelhaften Beginnen ohne Schuld des
andern selbst seinen Tod. Auch der Held fühlt sich von dem Hauch einer
Schuld angeweht; er liebt das Weib seines Bruders, die ihn wieder mit Lei¬
denschaft als den guten Engel ihres Lebens betrachtet, und in einer Stunde
voll Schmerz haben die Beiden einander dies Gefühl verrathen. Deshalb
sucht er nach dem grausigen Ende seines Bruders auch für sich die Rettung uno
Sühne, und er findet sie auf dem verhängnißvollen Thurm, von dem eüv
Bruder den andern und ein Vater den ungerathenen Sohn hatte herabstürzen
wollen, nach schwerem Kampfe bei seiner Arbeit unter Schwindel und Todes¬
grauen. Seine Sühne heißt Entsagung. Er lebt neben der Witwe seines


schaftlich, ja mit überwältigender Macht stiegen seine Gestalten uno die ein¬
zelnen großen Situationen derselben in ihm ans, und sie stillen seine Seele zu
sehr mit der düstern und schwülen Luft, in welcher sie selbst athmen sollen.
Sein Schaffen erscheint so wie ein gewaltiges Ringen, welches ihm eher
Schmerzen macht, als Behagen. Auch wenn er nicht der Diener seiner Ge¬
waltigen wird, die Heiterkeit und den klaren Frieden vermißt man, und das
Ganze macht am Schluß vielleicht einen beängstigenden Eindruck, nach dem
Kampfe dämonischer Leidenschaften schwebt über der ausgebrannten Stätte ein
düsteres Grau.

Wenn auch in der neuen Erzählung ach Dichters diese Eigenthümlichkeit
seines Schaffens bemerkbar wird, so soll doch gleich hier gesagt werden, daß
die Novelle zu dem Bedeutendsten gehört, was in den letzten fünfundzwanzig
Jahren in dieser Gattung bei uns geschrieben wurde; und da dies nicht grade
viel sagen will, sei noch hinzugesetzt, daß sie zu aller Zeit für ein merkwür¬
diges und bedeutendes Werk gelten wird, denn es sind Schönheiten darin, die
kaum ein andrer deutscher Schriftsteller erreichen mag. Der Stoff ist sehr ein¬
fach. Die Erzählung verläuft in vier Charakteren einer Schieferdeckerfamilie,
und berichtet den Kampf zweier Brüder, von denen der eine, stark,, maßvoll,
pflichtgetreu, voll Selbstbeherrschung, von dem andern, einem neidischen,
gleißenden Gesell, voll unwahrer Gemüthlichkeit, in »der Jugend durch Lügen
um seine Geliebte betrogen und nach Ueberlistung eines knorrigen, herrsch¬
süchtigen Vaters in die Fremde getrieben wird. Der Getäuschte kommt
zurück als fertiger Mann, tritt in das Geschäft des Vaters ein und fin¬
det seine, Geliebte als Frau des Bruders und ihm feindlich abgeneigt. Durch
seine Tüchtigkeit im Geschäft demüthigt er, ohne zu wollen, den falschen
Bruder. Sein Wesen zieht die Jugendgeliebte nach harten Kämpfen zu ihm
hin, in dem Bruder aber, der ihn einst betrog und jetzt fürchtet, entwickelt
sich eine Reihe niedriger Leidenschaften, Neid, Eifersucht, zuletzt ein grimmiger,
tödtlicher Haß. Durch diese wird der Unselige allmälig so zerrüttet, daß er zu
dem furchtbaren Entschluß kommt, den Bruder bei der Arbeit vom Thurmdach
zu stürzen. Er aber findet bei dem frevelhaften Beginnen ohne Schuld des
andern selbst seinen Tod. Auch der Held fühlt sich von dem Hauch einer
Schuld angeweht; er liebt das Weib seines Bruders, die ihn wieder mit Lei¬
denschaft als den guten Engel ihres Lebens betrachtet, und in einer Stunde
voll Schmerz haben die Beiden einander dies Gefühl verrathen. Deshalb
sucht er nach dem grausigen Ende seines Bruders auch für sich die Rettung uno
Sühne, und er findet sie auf dem verhängnißvollen Thurm, von dem eüv
Bruder den andern und ein Vater den ungerathenen Sohn hatte herabstürzen
wollen, nach schwerem Kampfe bei seiner Arbeit unter Schwindel und Todes¬
grauen. Seine Sühne heißt Entsagung. Er lebt neben der Witwe seines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/132>, abgerufen am 23.07.2024.