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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Wiederherstellung Polens durchsetzen: "wozu Preußen ja noch heute durch den
Vertrag vom 10. Mai 1790 verpflichtet bleibt." Dann sollen sie herausgeben,
was sie geraubt haben. "Preußen muß herausgeben, was es ohne den Willen
Polens von diesem und nicht gemäß der freiwilligen Schenkung Sigismund
Augusts in der Lehnsurkunde über das Herzogthum Preußen in Besitz genom¬
men." Sonst waren die Polen bescheidener, sie verlangten nur das Großherzog-
thum Posen zurück; jetzt werden auch ohne weiteres die Ansprüche auf West-
preußen erhoben. "Jede Schwierigkeit schwindet, wenn die freie Stadt Danzig
unter Preußens und Polens gemeinschaftlicher Hoheit ihre alte Stellung zu
den Schwesterstädten der Hansa, Hamburg, Lübeck, Bremen, Frankfurt und
Nowgorod wieder einnimmt und ihr neutrales Gebiet so vergrößert wird, daß
Preußen nicht eines polnischen Passes bedarf, um seine Verbindung mit Königs¬
berg zu unterhalten."

Nun könnte man einwenden, daß die Erfindungen eines müßigen Kopses
über die eigentlichen Gedanken und Pläne der Polen nichts beweisen, aber es
ist in der That nicht anders. Wenn ein neues polnisches Reich errichtet wird,
so muß seine erste Aufgabe sein, die Weichselmündungen in seine Gewalt zu
bekommen, wie ja auch die Jagellonen diese Aufgabe richtig begriffen. Damals
waren sie die Stärkern, später gewann Preußen das Uebergewicht. Leider
konnte es sich seiner alten Provinz nicht anders bemächtigen, als mit Hilfe
Rußlands; allein indem es sich dieselben aneignete, führte eS nur aus, wozu
es seine ganze Geschichte drängte. Wären die Polen die Stärkern gewesen,
so hätten wir auch Königsberg verloren, und Kant wäre unter polnischer Herr¬
schaft geboren.

Um die Frage von der Wiederherstellung Polens zu beurtheilen, muß man
sich die Frage über das Recht oder Unrecht der Theilung Polens ganz aus
dem Sinn schlagen. In der Geschichte ist es mit der Abzahlung alter Schul¬
den nicht so einfach gemacht, wie im Privatleben. Man muß lediglich die ge¬
genwärtigen Verhältnisse in Rechnung bringen.

Dem projectirten polnischen Reich fehlt zunächst alle geographische Grund¬
lage. Ein aus dem gegenwärtigen Königreich Polen, dem Großherzogthum
Posen, Galizien, Lithauen, Volhynien und Podolien zusammengesetztes Reich
wäre eine wüste Ländermasse ohne Mittelpunkt, ohne Communication mit der
See, also auch ohne selbstständige Politik, und darauf angewiesen, entweder die
Ostseeprovinzen zu erobern, oder wieder erobert zu werben. In dem alten, auf
privatrechtliche Verhältnisse begründeten Staatensystem konnte so etwas ge¬
deihen; eS wurde unmöglich, sobald die übrigen Staaten den Begriff der
Souveränetät durchführten. Die Begriffe der gemeinsamen Hoheit Polens
und Preußens über die Republik Danzig, die mit den Hansestädten Hamburg,
Frankfurt und Nowgorod wieder einen Bund schließen soll, sind gradezu ante-


Wiederherstellung Polens durchsetzen: „wozu Preußen ja noch heute durch den
Vertrag vom 10. Mai 1790 verpflichtet bleibt." Dann sollen sie herausgeben,
was sie geraubt haben. „Preußen muß herausgeben, was es ohne den Willen
Polens von diesem und nicht gemäß der freiwilligen Schenkung Sigismund
Augusts in der Lehnsurkunde über das Herzogthum Preußen in Besitz genom¬
men." Sonst waren die Polen bescheidener, sie verlangten nur das Großherzog-
thum Posen zurück; jetzt werden auch ohne weiteres die Ansprüche auf West-
preußen erhoben. „Jede Schwierigkeit schwindet, wenn die freie Stadt Danzig
unter Preußens und Polens gemeinschaftlicher Hoheit ihre alte Stellung zu
den Schwesterstädten der Hansa, Hamburg, Lübeck, Bremen, Frankfurt und
Nowgorod wieder einnimmt und ihr neutrales Gebiet so vergrößert wird, daß
Preußen nicht eines polnischen Passes bedarf, um seine Verbindung mit Königs¬
berg zu unterhalten."

Nun könnte man einwenden, daß die Erfindungen eines müßigen Kopses
über die eigentlichen Gedanken und Pläne der Polen nichts beweisen, aber es
ist in der That nicht anders. Wenn ein neues polnisches Reich errichtet wird,
so muß seine erste Aufgabe sein, die Weichselmündungen in seine Gewalt zu
bekommen, wie ja auch die Jagellonen diese Aufgabe richtig begriffen. Damals
waren sie die Stärkern, später gewann Preußen das Uebergewicht. Leider
konnte es sich seiner alten Provinz nicht anders bemächtigen, als mit Hilfe
Rußlands; allein indem es sich dieselben aneignete, führte eS nur aus, wozu
es seine ganze Geschichte drängte. Wären die Polen die Stärkern gewesen,
so hätten wir auch Königsberg verloren, und Kant wäre unter polnischer Herr¬
schaft geboren.

Um die Frage von der Wiederherstellung Polens zu beurtheilen, muß man
sich die Frage über das Recht oder Unrecht der Theilung Polens ganz aus
dem Sinn schlagen. In der Geschichte ist es mit der Abzahlung alter Schul¬
den nicht so einfach gemacht, wie im Privatleben. Man muß lediglich die ge¬
genwärtigen Verhältnisse in Rechnung bringen.

Dem projectirten polnischen Reich fehlt zunächst alle geographische Grund¬
lage. Ein aus dem gegenwärtigen Königreich Polen, dem Großherzogthum
Posen, Galizien, Lithauen, Volhynien und Podolien zusammengesetztes Reich
wäre eine wüste Ländermasse ohne Mittelpunkt, ohne Communication mit der
See, also auch ohne selbstständige Politik, und darauf angewiesen, entweder die
Ostseeprovinzen zu erobern, oder wieder erobert zu werben. In dem alten, auf
privatrechtliche Verhältnisse begründeten Staatensystem konnte so etwas ge¬
deihen; eS wurde unmöglich, sobald die übrigen Staaten den Begriff der
Souveränetät durchführten. Die Begriffe der gemeinsamen Hoheit Polens
und Preußens über die Republik Danzig, die mit den Hansestädten Hamburg,
Frankfurt und Nowgorod wieder einen Bund schließen soll, sind gradezu ante-


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[0072] Wiederherstellung Polens durchsetzen: „wozu Preußen ja noch heute durch den Vertrag vom 10. Mai 1790 verpflichtet bleibt." Dann sollen sie herausgeben, was sie geraubt haben. „Preußen muß herausgeben, was es ohne den Willen Polens von diesem und nicht gemäß der freiwilligen Schenkung Sigismund Augusts in der Lehnsurkunde über das Herzogthum Preußen in Besitz genom¬ men." Sonst waren die Polen bescheidener, sie verlangten nur das Großherzog- thum Posen zurück; jetzt werden auch ohne weiteres die Ansprüche auf West- preußen erhoben. „Jede Schwierigkeit schwindet, wenn die freie Stadt Danzig unter Preußens und Polens gemeinschaftlicher Hoheit ihre alte Stellung zu den Schwesterstädten der Hansa, Hamburg, Lübeck, Bremen, Frankfurt und Nowgorod wieder einnimmt und ihr neutrales Gebiet so vergrößert wird, daß Preußen nicht eines polnischen Passes bedarf, um seine Verbindung mit Königs¬ berg zu unterhalten." Nun könnte man einwenden, daß die Erfindungen eines müßigen Kopses über die eigentlichen Gedanken und Pläne der Polen nichts beweisen, aber es ist in der That nicht anders. Wenn ein neues polnisches Reich errichtet wird, so muß seine erste Aufgabe sein, die Weichselmündungen in seine Gewalt zu bekommen, wie ja auch die Jagellonen diese Aufgabe richtig begriffen. Damals waren sie die Stärkern, später gewann Preußen das Uebergewicht. Leider konnte es sich seiner alten Provinz nicht anders bemächtigen, als mit Hilfe Rußlands; allein indem es sich dieselben aneignete, führte eS nur aus, wozu es seine ganze Geschichte drängte. Wären die Polen die Stärkern gewesen, so hätten wir auch Königsberg verloren, und Kant wäre unter polnischer Herr¬ schaft geboren. Um die Frage von der Wiederherstellung Polens zu beurtheilen, muß man sich die Frage über das Recht oder Unrecht der Theilung Polens ganz aus dem Sinn schlagen. In der Geschichte ist es mit der Abzahlung alter Schul¬ den nicht so einfach gemacht, wie im Privatleben. Man muß lediglich die ge¬ genwärtigen Verhältnisse in Rechnung bringen. Dem projectirten polnischen Reich fehlt zunächst alle geographische Grund¬ lage. Ein aus dem gegenwärtigen Königreich Polen, dem Großherzogthum Posen, Galizien, Lithauen, Volhynien und Podolien zusammengesetztes Reich wäre eine wüste Ländermasse ohne Mittelpunkt, ohne Communication mit der See, also auch ohne selbstständige Politik, und darauf angewiesen, entweder die Ostseeprovinzen zu erobern, oder wieder erobert zu werben. In dem alten, auf privatrechtliche Verhältnisse begründeten Staatensystem konnte so etwas ge¬ deihen; eS wurde unmöglich, sobald die übrigen Staaten den Begriff der Souveränetät durchführten. Die Begriffe der gemeinsamen Hoheit Polens und Preußens über die Republik Danzig, die mit den Hansestädten Hamburg, Frankfurt und Nowgorod wieder einen Bund schließen soll, sind gradezu ante-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/72>, abgerufen am 27.07.2024.