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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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diluvianisch. In der Arrpndirungspolitik des vorigen Jahrhunderts, so sehr
man sie angefochten hat, lag doch ein richtiger Grundgedanke; denn nurZdie
Länder können einen Staat bilden, die zusammengehören, die man übersehen
und gemeinschaftlich bewirthschaften kann. Es ist allerdings hart für eine
Nation, darunter zu leiden, daß ihre Väter kein passendes Territorium zu ge¬
winnen wußten; aber die Geschichte ist einmal nicht sentimental.

Ebenso wichtig ist ein zweiter Umstand. Man verwechselt das gegenwär¬
tige Polen immer mit dem Polen von 1813. Rußland hat aber seit 1831 so
consequent operirt, daß von dem Kern einer polnischen Nationalität, der im
Stande wäre, den neuen Staat zu tragen, nicht mehr die Rede ist. Wenn
Napoleon I. die polnische Frage nur dazu benutzte, Recruten auszuheben, so
war das allerdings frivol gedacht; aber selbst dazu würde heute Napoleon III.
nur noch sehr wenig Gelegenheit haben. Wenn Oestreich und Preußen heute
Polen wiederherstellen wollten, so müßten sie es nicht nnr Rußland in schwerem
Kampf abgewinnen, nicht blos ihr eignes Land zerreißen, sondern sie müßten
den neuen Staat vom Fundament bis zum Gipfel selbst aufrichten. Das ist
aber zu viel verlangt. Man bringt Opfer, wenn man der Nothwendigkeit
weicht, aber aus freien Stücken sich einen Feind groß zu ziehen, das wird man
keinem Staat zumuthen.

Und was hat eigentlich die Menschheit für ein Interesse daran? Wir ge¬
hören nicht zu denen, welche die polnische Nationalität herabsetzen. Sie hat
nicht blos viele liebenswürdige, sondern auch tüchtige Eigenschaften, und es
liegt kein Grund vor, sie nicht für ebenso entwicklungsfähig zu halten, als die
andern Völker: aber'noch hat sie ihre Probe nicht gemacht, noch hat sie der
Cultur keine neuen Schätze zugeführt, und wenn dieser Umstand auch nicht
hinreicht, die Berechtigung einer bestehenden Nation in Zweifel zu ziehen, so
H er doch auch gewiß keine Veranlassung, eine untergehende Nation künstlich
ins Leben zu rufen. Fortgeschritten sind die Polen seit 1793 gewiß nicht.
Ihre einzige Beschäftigung ist seit der Zeit eine ununterbrochene Verschwörung
gewesen. Sie haben dabei viel Hochherzigkeit und ritterliches Wesen entwickelt,
aber nicht viel productive stäatenbilvende Kraft. Wenn schon 1831, wo sie
doch ein nationales Heer hatten, sich immer eine Hand wider die andere auf¬
hob, so würde das jetzt, wo sie als NevolutionSvirtuosen die schlechten Sitten
aller Länder kennen gelernt haben, in noch viel höherem Grade der Fall sein.

Wir halten die politische Zukunft Polens für hoffnungslos; ob auch die
nationale, das wird von ihren Fortschritten im bürgerlichen Leben abhängen.
Bis jetzt haben sie wenig darin geleistet; und wenn es noch ein Menschen¬
alter so fortgeht, daß sie alle anderweitige Thätigkeit auf die Zeit verschieben,
wo das Königreich hergestellt sein wird, so werden sie auch die Fähigkeit dazu
verlieren.




Grenzboten. II. 1866.9

diluvianisch. In der Arrpndirungspolitik des vorigen Jahrhunderts, so sehr
man sie angefochten hat, lag doch ein richtiger Grundgedanke; denn nurZdie
Länder können einen Staat bilden, die zusammengehören, die man übersehen
und gemeinschaftlich bewirthschaften kann. Es ist allerdings hart für eine
Nation, darunter zu leiden, daß ihre Väter kein passendes Territorium zu ge¬
winnen wußten; aber die Geschichte ist einmal nicht sentimental.

Ebenso wichtig ist ein zweiter Umstand. Man verwechselt das gegenwär¬
tige Polen immer mit dem Polen von 1813. Rußland hat aber seit 1831 so
consequent operirt, daß von dem Kern einer polnischen Nationalität, der im
Stande wäre, den neuen Staat zu tragen, nicht mehr die Rede ist. Wenn
Napoleon I. die polnische Frage nur dazu benutzte, Recruten auszuheben, so
war das allerdings frivol gedacht; aber selbst dazu würde heute Napoleon III.
nur noch sehr wenig Gelegenheit haben. Wenn Oestreich und Preußen heute
Polen wiederherstellen wollten, so müßten sie es nicht nnr Rußland in schwerem
Kampf abgewinnen, nicht blos ihr eignes Land zerreißen, sondern sie müßten
den neuen Staat vom Fundament bis zum Gipfel selbst aufrichten. Das ist
aber zu viel verlangt. Man bringt Opfer, wenn man der Nothwendigkeit
weicht, aber aus freien Stücken sich einen Feind groß zu ziehen, das wird man
keinem Staat zumuthen.

Und was hat eigentlich die Menschheit für ein Interesse daran? Wir ge¬
hören nicht zu denen, welche die polnische Nationalität herabsetzen. Sie hat
nicht blos viele liebenswürdige, sondern auch tüchtige Eigenschaften, und es
liegt kein Grund vor, sie nicht für ebenso entwicklungsfähig zu halten, als die
andern Völker: aber'noch hat sie ihre Probe nicht gemacht, noch hat sie der
Cultur keine neuen Schätze zugeführt, und wenn dieser Umstand auch nicht
hinreicht, die Berechtigung einer bestehenden Nation in Zweifel zu ziehen, so
H er doch auch gewiß keine Veranlassung, eine untergehende Nation künstlich
ins Leben zu rufen. Fortgeschritten sind die Polen seit 1793 gewiß nicht.
Ihre einzige Beschäftigung ist seit der Zeit eine ununterbrochene Verschwörung
gewesen. Sie haben dabei viel Hochherzigkeit und ritterliches Wesen entwickelt,
aber nicht viel productive stäatenbilvende Kraft. Wenn schon 1831, wo sie
doch ein nationales Heer hatten, sich immer eine Hand wider die andere auf¬
hob, so würde das jetzt, wo sie als NevolutionSvirtuosen die schlechten Sitten
aller Länder kennen gelernt haben, in noch viel höherem Grade der Fall sein.

Wir halten die politische Zukunft Polens für hoffnungslos; ob auch die
nationale, das wird von ihren Fortschritten im bürgerlichen Leben abhängen.
Bis jetzt haben sie wenig darin geleistet; und wenn es noch ein Menschen¬
alter so fortgeht, daß sie alle anderweitige Thätigkeit auf die Zeit verschieben,
wo das Königreich hergestellt sein wird, so werden sie auch die Fähigkeit dazu
verlieren.




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[0073] diluvianisch. In der Arrpndirungspolitik des vorigen Jahrhunderts, so sehr man sie angefochten hat, lag doch ein richtiger Grundgedanke; denn nurZdie Länder können einen Staat bilden, die zusammengehören, die man übersehen und gemeinschaftlich bewirthschaften kann. Es ist allerdings hart für eine Nation, darunter zu leiden, daß ihre Väter kein passendes Territorium zu ge¬ winnen wußten; aber die Geschichte ist einmal nicht sentimental. Ebenso wichtig ist ein zweiter Umstand. Man verwechselt das gegenwär¬ tige Polen immer mit dem Polen von 1813. Rußland hat aber seit 1831 so consequent operirt, daß von dem Kern einer polnischen Nationalität, der im Stande wäre, den neuen Staat zu tragen, nicht mehr die Rede ist. Wenn Napoleon I. die polnische Frage nur dazu benutzte, Recruten auszuheben, so war das allerdings frivol gedacht; aber selbst dazu würde heute Napoleon III. nur noch sehr wenig Gelegenheit haben. Wenn Oestreich und Preußen heute Polen wiederherstellen wollten, so müßten sie es nicht nnr Rußland in schwerem Kampf abgewinnen, nicht blos ihr eignes Land zerreißen, sondern sie müßten den neuen Staat vom Fundament bis zum Gipfel selbst aufrichten. Das ist aber zu viel verlangt. Man bringt Opfer, wenn man der Nothwendigkeit weicht, aber aus freien Stücken sich einen Feind groß zu ziehen, das wird man keinem Staat zumuthen. Und was hat eigentlich die Menschheit für ein Interesse daran? Wir ge¬ hören nicht zu denen, welche die polnische Nationalität herabsetzen. Sie hat nicht blos viele liebenswürdige, sondern auch tüchtige Eigenschaften, und es liegt kein Grund vor, sie nicht für ebenso entwicklungsfähig zu halten, als die andern Völker: aber'noch hat sie ihre Probe nicht gemacht, noch hat sie der Cultur keine neuen Schätze zugeführt, und wenn dieser Umstand auch nicht hinreicht, die Berechtigung einer bestehenden Nation in Zweifel zu ziehen, so H er doch auch gewiß keine Veranlassung, eine untergehende Nation künstlich ins Leben zu rufen. Fortgeschritten sind die Polen seit 1793 gewiß nicht. Ihre einzige Beschäftigung ist seit der Zeit eine ununterbrochene Verschwörung gewesen. Sie haben dabei viel Hochherzigkeit und ritterliches Wesen entwickelt, aber nicht viel productive stäatenbilvende Kraft. Wenn schon 1831, wo sie doch ein nationales Heer hatten, sich immer eine Hand wider die andere auf¬ hob, so würde das jetzt, wo sie als NevolutionSvirtuosen die schlechten Sitten aller Länder kennen gelernt haben, in noch viel höherem Grade der Fall sein. Wir halten die politische Zukunft Polens für hoffnungslos; ob auch die nationale, das wird von ihren Fortschritten im bürgerlichen Leben abhängen. Bis jetzt haben sie wenig darin geleistet; und wenn es noch ein Menschen¬ alter so fortgeht, daß sie alle anderweitige Thätigkeit auf die Zeit verschieben, wo das Königreich hergestellt sein wird, so werden sie auch die Fähigkeit dazu verlieren. Grenzboten. II. 1866.9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/73>, abgerufen am 27.06.2024.