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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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orthographische Fehler, indessen wird das Verständniß durch fortwährende Lücken
sehr erschwert. Die Ergänzungen der Akademiker sind häufig gar nicht zu
brauchen; denn Griechisch ist von je her die schwache Seite der italienischen
Alterthumsforscher gewesen. Man muß sich begnügen, zur Noth dem Gedanken¬
gange folgen zu können.

Man irrt sehr, wenn man hofft, in dieser Abhandlung Aufschlüsse über
die Musik der Alten zu finden, eine Kunst, von der wir leider so gut als gar
nichts wissen und auch schwerlich je etwas wissen werden. Die Schrift des
Philodemus ist antimusikalisch. Er zeigt sich als einen jener völlig gehörlosen
Menschen, die ihre eigne Unfähigkeit als den normalen Zustand und die bessere
Organisation der übrigen Welt als eine Schwäche oder Einbildung ansehen,
und diese Ansicht mit einem Aufwande thörichten Scharfsinnes systematisch
durchführen. Daher trifft man unter seinen Argumenten über die gänzliche
Werthlostgkeit der Musik manche, die auch jetzt ihre Verächter im Munde zu
führen pflegen. Philodemus polemisirt gegen einen Stoiker Diogenes, dessen Ver¬
theidigung der Musik jedenfalls vernünftiger war als sein Angriff. Er bestreitet,
baß die Musik auf die Bildung des Geistes einen Einfluß üben könne. Der
Eindruck, den sie mache, sei ein rein sinnlicher. Der Natur der Sache nach
sollte eine Musik bei allen Menschen denselben Eindruck hervorbringen, weil
das Gehör bei allen dasselbe sei; wenn nichtsdestoweniger eine Melodie einigen
gefalle, andern mißfalle, so liege dies an vorgefaßten Meinungen. Er leugnet,
daß sich die Wirkung der Musik auf die Empfindung theoretisch berechnen und
feststellen lasse, denn die Musik sei keine darstellende Kunst, ebensowenig als
die Kochkunst (die die griechischen Philosophen seit Sokrates mit Vorliebe'zu
ihren Vergleichungen wählten). Sodann geht er auf die Anwendung der
Musik über, und behauptet, sie sei bei religiösen Handlungen unwesentlich,
selbst mit Schauspielen habe sie ursprünglich nichts zu thun gehabt. Es
werden nun die einzelnen Gattungen der Musik durchgenommen. Wenn Liebes¬
lieder eine Wirkung thäten, so sei sie dem Text, nicht der Komposition zu¬
zuschreiben; dasselbe sei, bei Klageliedern der Fall, die noch überdies die schäd¬
liche Wirkung hätten, die Trauer zu vermehren, die sie doch vermindern sollten,
und sogar absichtlich auf diesen verwerflichen Zweck berechnet würden. Am
schlechtesten kommen die Verfasser der hochzeitlichen Musiken (Hymenäen) weg;
der musikfeindliche Philosoph stellt sie in eine Kategorie mit Köchen und Kuchen¬
bäckern, die zu Hochzeiten gemiethet werden. Einer Melodie kann man seiner
Meinung nach durchaus keine inwohnende, die Seele bewegende Kraft bei¬
legen, wie man z. B. dem Feuer die Kraft des Brennens beilegt u. f. w.
Seine Gegner hätten angeführt, daß die Arbeit der Ruderer (und in alter Zeit
die der Schnitter und Winzer) unter Musikbegleitung verrichtet werde: aber dies
geschehe nicht etwa, weil die Musik eine anregende Wirkung ausübe, sondern


orthographische Fehler, indessen wird das Verständniß durch fortwährende Lücken
sehr erschwert. Die Ergänzungen der Akademiker sind häufig gar nicht zu
brauchen; denn Griechisch ist von je her die schwache Seite der italienischen
Alterthumsforscher gewesen. Man muß sich begnügen, zur Noth dem Gedanken¬
gange folgen zu können.

Man irrt sehr, wenn man hofft, in dieser Abhandlung Aufschlüsse über
die Musik der Alten zu finden, eine Kunst, von der wir leider so gut als gar
nichts wissen und auch schwerlich je etwas wissen werden. Die Schrift des
Philodemus ist antimusikalisch. Er zeigt sich als einen jener völlig gehörlosen
Menschen, die ihre eigne Unfähigkeit als den normalen Zustand und die bessere
Organisation der übrigen Welt als eine Schwäche oder Einbildung ansehen,
und diese Ansicht mit einem Aufwande thörichten Scharfsinnes systematisch
durchführen. Daher trifft man unter seinen Argumenten über die gänzliche
Werthlostgkeit der Musik manche, die auch jetzt ihre Verächter im Munde zu
führen pflegen. Philodemus polemisirt gegen einen Stoiker Diogenes, dessen Ver¬
theidigung der Musik jedenfalls vernünftiger war als sein Angriff. Er bestreitet,
baß die Musik auf die Bildung des Geistes einen Einfluß üben könne. Der
Eindruck, den sie mache, sei ein rein sinnlicher. Der Natur der Sache nach
sollte eine Musik bei allen Menschen denselben Eindruck hervorbringen, weil
das Gehör bei allen dasselbe sei; wenn nichtsdestoweniger eine Melodie einigen
gefalle, andern mißfalle, so liege dies an vorgefaßten Meinungen. Er leugnet,
daß sich die Wirkung der Musik auf die Empfindung theoretisch berechnen und
feststellen lasse, denn die Musik sei keine darstellende Kunst, ebensowenig als
die Kochkunst (die die griechischen Philosophen seit Sokrates mit Vorliebe'zu
ihren Vergleichungen wählten). Sodann geht er auf die Anwendung der
Musik über, und behauptet, sie sei bei religiösen Handlungen unwesentlich,
selbst mit Schauspielen habe sie ursprünglich nichts zu thun gehabt. Es
werden nun die einzelnen Gattungen der Musik durchgenommen. Wenn Liebes¬
lieder eine Wirkung thäten, so sei sie dem Text, nicht der Komposition zu¬
zuschreiben; dasselbe sei, bei Klageliedern der Fall, die noch überdies die schäd¬
liche Wirkung hätten, die Trauer zu vermehren, die sie doch vermindern sollten,
und sogar absichtlich auf diesen verwerflichen Zweck berechnet würden. Am
schlechtesten kommen die Verfasser der hochzeitlichen Musiken (Hymenäen) weg;
der musikfeindliche Philosoph stellt sie in eine Kategorie mit Köchen und Kuchen¬
bäckern, die zu Hochzeiten gemiethet werden. Einer Melodie kann man seiner
Meinung nach durchaus keine inwohnende, die Seele bewegende Kraft bei¬
legen, wie man z. B. dem Feuer die Kraft des Brennens beilegt u. f. w.
Seine Gegner hätten angeführt, daß die Arbeit der Ruderer (und in alter Zeit
die der Schnitter und Winzer) unter Musikbegleitung verrichtet werde: aber dies
geschehe nicht etwa, weil die Musik eine anregende Wirkung ausübe, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/68>, abgerufen am 27.06.2024.