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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Kunst sei^ ist freilich eine Vorstellung, die jetzt'leider nicht allein unserem
Publicum, sondern auch unsern Sängern fast ganz fremd geworden ist. Wie
wenige bedenken, daß auch die umfangreichste , wohlklingendste Stimme nur ein
Material ist, das durch die allerstrengste Schulung dem künstlerischen Gebrauch
gerecht gemacht werden muß; daß das, was man gewöhnlich Fertigkeit nennt,
keineswegs das einzige, nicht einmal das wichtigste Resultat dieser Schulung
ist, sondern daß die vollkommene Herrschaft über die Tonbildung im weitesten
Umfang das ist, was der Gesangkünstler erreichen muß, damit er unter allen
Umständen nicht allein einen schönen Ton zu bilden, sondern diesem jedes Mal
die Klangfarbe zu gebe", ihm be" Ausdruck einzuprägen vermöge, welcher er¬
forderlich ist, um das auszudrücken, was der Componist gewollt hat. Freilich
gewinnt eine solche an sich schon bewundernswerthe Herrschaft über die voll¬
kommen ausgebildete Stimme erst Leben und Bedeutung, wenn der Sänger
auch die allgemeine musikalische Bildung besitzt, um diese Mittel dem Wesen
der Kunst gemäß zu verwenden, und poetischen Sinn und Verständniß, um
von innen heraus seine Aufgabe geistig zu erfassen und zu beleben. Die Ver¬
einigung dieser Eigenschaften ist es, weiche Stockhausen einen so hohen Nang
als Sänger anweist, und, was sich bei einem wahren Künstler von selbst ver¬
steht, die unbedingte Hingebung an die Sache, die Wahrheit, welche seinen
Vortrag bis ins kleinste Detail durchdringt. Daher kann man auch kaum sa¬
gen, daß er in einem Genre besser sei als in dem anderen; die Vollendung
der technischen Ausführung, die poetische Wahrheit der Darstellung ist stets
dieselbe, und w'cum die Wirkung eine verschiedene ist, so liegt das wol zum
großen Theil auch am Zuhörer, an dessen Stimmung und Richtung. Daß
Stockhausen eine seltene Fertigkeit besitzt, daß er die Cvloratur, sowol die
rasch fließende der modernen, als die gewichtige der früheren Gesangsweise,
Triller, Manieren aller Art und in jeder Nuancirung vollkommen ausgebildet
hat, hört jeder leicht; die Freiheit und Sicherheit, mit welcher er Schwierig¬
keiten überwindet, die nur der Kundige wahrnimmt, überall Gleichmäßigkeit
uno Uebereinstimmung des Einzelnen herzustellen und Licht und Schatten zu
vertheilen weiß, empfindet in ihrer wohlthuenden Wirkung wol auch der Laie,
recht würdigen kann sie nur der Kunstverständige. Aehnlich verhält es sich
mit der Kunst den Ton zu bilden und ihm die verschiedenartigsten Klangfarben
zu geben. Wer empfänglich für daS Wahre und Schöne ist, der wird frei¬
lich von der Wahrheit des Ausdrucks, welche stets mit der Schönheit des Tons
vereint ist, getroffen werden und oft am meisten bei solchen Stellen, welche
scheinbar an sich wenig bedeutend, eine wunderbare Wirkung thun, -- nicht
weil der Sänger etwas Neues und Anderes aus ihnen macht, sondern weil er
das zur Geltung zu bringen weiß, was in ihnen liegt; allein in welcher
Weise diese Wirkung aus ven künstlerischen Gebrauch künstlerischer Mittel be-


Kunst sei^ ist freilich eine Vorstellung, die jetzt'leider nicht allein unserem
Publicum, sondern auch unsern Sängern fast ganz fremd geworden ist. Wie
wenige bedenken, daß auch die umfangreichste , wohlklingendste Stimme nur ein
Material ist, das durch die allerstrengste Schulung dem künstlerischen Gebrauch
gerecht gemacht werden muß; daß das, was man gewöhnlich Fertigkeit nennt,
keineswegs das einzige, nicht einmal das wichtigste Resultat dieser Schulung
ist, sondern daß die vollkommene Herrschaft über die Tonbildung im weitesten
Umfang das ist, was der Gesangkünstler erreichen muß, damit er unter allen
Umständen nicht allein einen schönen Ton zu bilden, sondern diesem jedes Mal
die Klangfarbe zu gebe», ihm be» Ausdruck einzuprägen vermöge, welcher er¬
forderlich ist, um das auszudrücken, was der Componist gewollt hat. Freilich
gewinnt eine solche an sich schon bewundernswerthe Herrschaft über die voll¬
kommen ausgebildete Stimme erst Leben und Bedeutung, wenn der Sänger
auch die allgemeine musikalische Bildung besitzt, um diese Mittel dem Wesen
der Kunst gemäß zu verwenden, und poetischen Sinn und Verständniß, um
von innen heraus seine Aufgabe geistig zu erfassen und zu beleben. Die Ver¬
einigung dieser Eigenschaften ist es, weiche Stockhausen einen so hohen Nang
als Sänger anweist, und, was sich bei einem wahren Künstler von selbst ver¬
steht, die unbedingte Hingebung an die Sache, die Wahrheit, welche seinen
Vortrag bis ins kleinste Detail durchdringt. Daher kann man auch kaum sa¬
gen, daß er in einem Genre besser sei als in dem anderen; die Vollendung
der technischen Ausführung, die poetische Wahrheit der Darstellung ist stets
dieselbe, und w'cum die Wirkung eine verschiedene ist, so liegt das wol zum
großen Theil auch am Zuhörer, an dessen Stimmung und Richtung. Daß
Stockhausen eine seltene Fertigkeit besitzt, daß er die Cvloratur, sowol die
rasch fließende der modernen, als die gewichtige der früheren Gesangsweise,
Triller, Manieren aller Art und in jeder Nuancirung vollkommen ausgebildet
hat, hört jeder leicht; die Freiheit und Sicherheit, mit welcher er Schwierig¬
keiten überwindet, die nur der Kundige wahrnimmt, überall Gleichmäßigkeit
uno Uebereinstimmung des Einzelnen herzustellen und Licht und Schatten zu
vertheilen weiß, empfindet in ihrer wohlthuenden Wirkung wol auch der Laie,
recht würdigen kann sie nur der Kunstverständige. Aehnlich verhält es sich
mit der Kunst den Ton zu bilden und ihm die verschiedenartigsten Klangfarben
zu geben. Wer empfänglich für daS Wahre und Schöne ist, der wird frei¬
lich von der Wahrheit des Ausdrucks, welche stets mit der Schönheit des Tons
vereint ist, getroffen werden und oft am meisten bei solchen Stellen, welche
scheinbar an sich wenig bedeutend, eine wunderbare Wirkung thun, — nicht
weil der Sänger etwas Neues und Anderes aus ihnen macht, sondern weil er
das zur Geltung zu bringen weiß, was in ihnen liegt; allein in welcher
Weise diese Wirkung aus ven künstlerischen Gebrauch künstlerischer Mittel be-


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[0496] Kunst sei^ ist freilich eine Vorstellung, die jetzt'leider nicht allein unserem Publicum, sondern auch unsern Sängern fast ganz fremd geworden ist. Wie wenige bedenken, daß auch die umfangreichste , wohlklingendste Stimme nur ein Material ist, das durch die allerstrengste Schulung dem künstlerischen Gebrauch gerecht gemacht werden muß; daß das, was man gewöhnlich Fertigkeit nennt, keineswegs das einzige, nicht einmal das wichtigste Resultat dieser Schulung ist, sondern daß die vollkommene Herrschaft über die Tonbildung im weitesten Umfang das ist, was der Gesangkünstler erreichen muß, damit er unter allen Umständen nicht allein einen schönen Ton zu bilden, sondern diesem jedes Mal die Klangfarbe zu gebe», ihm be» Ausdruck einzuprägen vermöge, welcher er¬ forderlich ist, um das auszudrücken, was der Componist gewollt hat. Freilich gewinnt eine solche an sich schon bewundernswerthe Herrschaft über die voll¬ kommen ausgebildete Stimme erst Leben und Bedeutung, wenn der Sänger auch die allgemeine musikalische Bildung besitzt, um diese Mittel dem Wesen der Kunst gemäß zu verwenden, und poetischen Sinn und Verständniß, um von innen heraus seine Aufgabe geistig zu erfassen und zu beleben. Die Ver¬ einigung dieser Eigenschaften ist es, weiche Stockhausen einen so hohen Nang als Sänger anweist, und, was sich bei einem wahren Künstler von selbst ver¬ steht, die unbedingte Hingebung an die Sache, die Wahrheit, welche seinen Vortrag bis ins kleinste Detail durchdringt. Daher kann man auch kaum sa¬ gen, daß er in einem Genre besser sei als in dem anderen; die Vollendung der technischen Ausführung, die poetische Wahrheit der Darstellung ist stets dieselbe, und w'cum die Wirkung eine verschiedene ist, so liegt das wol zum großen Theil auch am Zuhörer, an dessen Stimmung und Richtung. Daß Stockhausen eine seltene Fertigkeit besitzt, daß er die Cvloratur, sowol die rasch fließende der modernen, als die gewichtige der früheren Gesangsweise, Triller, Manieren aller Art und in jeder Nuancirung vollkommen ausgebildet hat, hört jeder leicht; die Freiheit und Sicherheit, mit welcher er Schwierig¬ keiten überwindet, die nur der Kundige wahrnimmt, überall Gleichmäßigkeit uno Uebereinstimmung des Einzelnen herzustellen und Licht und Schatten zu vertheilen weiß, empfindet in ihrer wohlthuenden Wirkung wol auch der Laie, recht würdigen kann sie nur der Kunstverständige. Aehnlich verhält es sich mit der Kunst den Ton zu bilden und ihm die verschiedenartigsten Klangfarben zu geben. Wer empfänglich für daS Wahre und Schöne ist, der wird frei¬ lich von der Wahrheit des Ausdrucks, welche stets mit der Schönheit des Tons vereint ist, getroffen werden und oft am meisten bei solchen Stellen, welche scheinbar an sich wenig bedeutend, eine wunderbare Wirkung thun, — nicht weil der Sänger etwas Neues und Anderes aus ihnen macht, sondern weil er das zur Geltung zu bringen weiß, was in ihnen liegt; allein in welcher Weise diese Wirkung aus ven künstlerischen Gebrauch künstlerischer Mittel be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/496>, abgerufen am 21.06.2024.