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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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ruht, daS wird wiederum nur der Kunstverständige ganz beurtheilen können.
Natürlich wird die höchste, die eigentliche Wirkung auch von Stockhausen nur
dadurch erreicht, daß seine meisterhafte Technik allein seiner poetischen Auffassung
dienstbar ist. Er besitzt eine außerordentliche Kraft und Lebendigkeit, den Cha¬
rakter einer Person oder Situation nach den durch die musikalische Ausführung
gegebenen Momenten in einem ganz bestimmt ausgeprägten plastischen Bild
aufzufassen, und zwar wie ein echter Künstler als ein Ganzes, so daß von
dem Kernpunkt derselben aus alle Einzelnheiten ihr wvhlabgemessenes Licht
und die richtige Färbung erhalten. Darauf beruht die stets gleiche Wahrheit
seines Vortrags, die jedes Einzelne mit Liebe behandelt, ohne es eines vorüber¬
gehenden Effects wegen zu bevorzugen, die Klarheit und Anschaulichkeit, die
in jedem Augenblick eine ganz bestimmte Empfindung im Hörer h'ervorruft,
ohne je auch nur im Geringsten zu übertreiben. Hierzu kommt, daß mit der
Feinheit im Auffinden der charakteristischen Momente eine natürliche Einfachheit,
mit der Lebhaftigkeit der Empfindung ein wahrer Adel sich aufs glücklichste
verschmelzen und ein künstlerisches Ganze von seltener Vollendung hervorbringen.
Wer Stvckhausens Elias aufmerksam gefolgt ist, dem wird ein Bild von scharf
ausgeprägter Individualität entgegengetreten sein, in allen Zügen übereinstim¬
mend und wahr. Dieser Elias war der mendelsvhnsche und die Organisation
des Sängers brachte es mit sich, daß die Züge, welche der Componist mit
Vorliebe ausgebildet hat, des frommen inbrünstigen Beters, des über sein
Volk trauernden Sehers, des unter der Last seiner vergeblichen Anstrengung
erliegenden Greises -- auch vom Sänger mit gleicher Vorliebe in den Vorder¬
grund gestellt wurden. Vielleicht läßt sich noch eine andere Auffassung denken,
die ^umgekehrt von den Momenten kräftiger Erregung ausgehend die Darstellung
des Componisten gewissermaßen zu ergänzen und weiter zu bilden suchte;
allein an sich ist gegen eine Auffassung nichts einzuwenden, die sich so aus den
Standpunkt des Eomponisten stellt und von da aus ein in sich vollendetes
Charaktergemälde entwirft. Es würde zu weit führen, dies im Einzelnen zu
verfolgen; allein um nur Eins anzuführen, der herzergreifende Ausdruck in
den Worten: "Siehe da dein Sohn lebet!" der geheimnißvolle Schauer
vor der Nähe Gottes bei den Worten: "Der du deine Diener machst zu
Geistern," die wunderbare Mischung menschlicher Trauer und prophetischer
Größe in den Worten: "Und der Herr wird Israel schlagen;" die ver¬
schiedene Nucmcirung der Trauer in den Worten: "Sie wollen sich übest
bekehren!" und: "O daß meine Seele stürbe!" -- das sind Momente
von der höchsten künstlerischen Bedeutung und gewiß jedem unvergeßlich.
Und doch sind sie sämmtlich von der Art, daß sie bei einem mittelmäßigen
Sänger ziemlich spurlos vorübergegangen wären und nur als die Züge eines
wirklichen Seelcngemäldes so ergreifend wirken konnten. Ich will es daher gar


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ruht, daS wird wiederum nur der Kunstverständige ganz beurtheilen können.
Natürlich wird die höchste, die eigentliche Wirkung auch von Stockhausen nur
dadurch erreicht, daß seine meisterhafte Technik allein seiner poetischen Auffassung
dienstbar ist. Er besitzt eine außerordentliche Kraft und Lebendigkeit, den Cha¬
rakter einer Person oder Situation nach den durch die musikalische Ausführung
gegebenen Momenten in einem ganz bestimmt ausgeprägten plastischen Bild
aufzufassen, und zwar wie ein echter Künstler als ein Ganzes, so daß von
dem Kernpunkt derselben aus alle Einzelnheiten ihr wvhlabgemessenes Licht
und die richtige Färbung erhalten. Darauf beruht die stets gleiche Wahrheit
seines Vortrags, die jedes Einzelne mit Liebe behandelt, ohne es eines vorüber¬
gehenden Effects wegen zu bevorzugen, die Klarheit und Anschaulichkeit, die
in jedem Augenblick eine ganz bestimmte Empfindung im Hörer h'ervorruft,
ohne je auch nur im Geringsten zu übertreiben. Hierzu kommt, daß mit der
Feinheit im Auffinden der charakteristischen Momente eine natürliche Einfachheit,
mit der Lebhaftigkeit der Empfindung ein wahrer Adel sich aufs glücklichste
verschmelzen und ein künstlerisches Ganze von seltener Vollendung hervorbringen.
Wer Stvckhausens Elias aufmerksam gefolgt ist, dem wird ein Bild von scharf
ausgeprägter Individualität entgegengetreten sein, in allen Zügen übereinstim¬
mend und wahr. Dieser Elias war der mendelsvhnsche und die Organisation
des Sängers brachte es mit sich, daß die Züge, welche der Componist mit
Vorliebe ausgebildet hat, des frommen inbrünstigen Beters, des über sein
Volk trauernden Sehers, des unter der Last seiner vergeblichen Anstrengung
erliegenden Greises — auch vom Sänger mit gleicher Vorliebe in den Vorder¬
grund gestellt wurden. Vielleicht läßt sich noch eine andere Auffassung denken,
die ^umgekehrt von den Momenten kräftiger Erregung ausgehend die Darstellung
des Componisten gewissermaßen zu ergänzen und weiter zu bilden suchte;
allein an sich ist gegen eine Auffassung nichts einzuwenden, die sich so aus den
Standpunkt des Eomponisten stellt und von da aus ein in sich vollendetes
Charaktergemälde entwirft. Es würde zu weit führen, dies im Einzelnen zu
verfolgen; allein um nur Eins anzuführen, der herzergreifende Ausdruck in
den Worten: „Siehe da dein Sohn lebet!" der geheimnißvolle Schauer
vor der Nähe Gottes bei den Worten: „Der du deine Diener machst zu
Geistern," die wunderbare Mischung menschlicher Trauer und prophetischer
Größe in den Worten: „Und der Herr wird Israel schlagen;" die ver¬
schiedene Nucmcirung der Trauer in den Worten: „Sie wollen sich übest
bekehren!" und: „O daß meine Seele stürbe!" — das sind Momente
von der höchsten künstlerischen Bedeutung und gewiß jedem unvergeßlich.
Und doch sind sie sämmtlich von der Art, daß sie bei einem mittelmäßigen
Sänger ziemlich spurlos vorübergegangen wären und nur als die Züge eines
wirklichen Seelcngemäldes so ergreifend wirken konnten. Ich will es daher gar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/497>, abgerufen am 21.06.2024.