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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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bringen und Lorbeeren zu pflücken. Endlich müssen aber, mit Karamstn "zu
reden, diese schönen Fabeln einer wirklichen historischen Kenntniß Platz machen.
Endlich müssen wir uns überzeugen, daß sich die Thatsachen anders verhalten,
als sie von unsern Hervdoten, und Liviussen dargestellt werden. Peter der
Große, der genialste unter den Reformatoren, blickte tiefer als alle andern in
den Abgrund der Barbarei, in welchen unser theures Vaterland versenkt war,
und suchte seine Umwandlung durch vollständiges Losreißen der Gegenwart
von der Vergangenheit zu beginnen. Er verstand besser, als je einer unsre
alte slawische Trägheit und verfolgte sie unbarmherzig in allen Phasen des
gesellschaftlichen Lebens. Er war ein Mensch und konnte manches nicht
voraussehen, manches falsch auffassen, in manchem zu weit gehen, aber wer
von uns wird trotz alledem diesen Regenerator Rußlands nicht bewundern, der
allein in jener Zeit es zu erheben und es mit neuem Leben zu begaben trach¬
tete, während alle andern, alle, selbst die Mitglieder seiner Familie, den von
ihm beabsichtigten Reformen widerstrebten und, seinem unbeugsamen Willen
gehorchend, ihn ungern ausführten, ihn, wo eS nur möglich war, zu umgehen
suchten, mit Hartnäckigkeit an ihrer geliebten Barbarei in geistiger wie in
materieller Beziehung festhaltend.*) Die Beweise hierfür treten uns nicht nur
in den politischen Ereignissen seiner Zeit entgegen, sondern auch in den Er¬
scheinungen, die sich an seine inneren Verbesserungen und Bildungöpläne
knüpften. Von der einen Seite widersetzten sich ihm die Raskolniks, die Fana¬
tiker, von der andern die Vorfahren des von wisinschen Mitrophanuschka**),
von der dritten die Scholastik, die in allen vor Peter dem Großen eristirenden
Lehranstalten tiefe Wurzel geschlagen hatte. Peter hatte keine Zeit, das Volk
zu erziehen, er wollte wenigstens die höhern Stände bilden, aber auch dort
traf er aus Hindernisse, die in der kurzen Periode eines Menschenlebens nicht
zu überwinden waren. Unter Peter konnte es keine Literatur geben, weil es
keine Bildung gab; unter seinen Nachfolgern bis Katharina II. erschienen ein¬
zelne Schriftsteller, der arbeitsame, aber schwerfällige Trcdjakowskji, der. Satiriker
Kantemir, endlich der geniale Lomonossow, alle jedoch vom Geiste der Schola¬
stik getränkt, nur von ausländischen Ideen zehrend. Es gab nicht einmal eine
Sprache. Was unter Peter selbst gedruckt wurde, erschien aus seine specielle
Verordnung, zuweilen unier seiner eignen Mitwirkung; überall mußte er per-




D, N.
Wir theilen dieses für den Standpunkt des Verfassers charakteristische Urtheil über
Peter den Großen mit, ohne natürlich im mindeste" die Verantwortlichkeit dafür zu übernehme"-
Bekanntlich läßt sich vielmehr gar manches dagegen einwenden, und namentlich hat die spätere
Geschichte Rußlands'das Bedenkliche des Versuchs gezeigt, ein Land von seiner Vergangenheit
mit Gewalt "losreißen" zu wolle". D. N.
Mitrophantischka ist der Held des in Rußland für classisch geltenden von wisinschen
Lustspiels "Ne-änrosl", -- ein Typus deS alte", verknöcherten moskvwitischcn Landadels.

bringen und Lorbeeren zu pflücken. Endlich müssen aber, mit Karamstn »zu
reden, diese schönen Fabeln einer wirklichen historischen Kenntniß Platz machen.
Endlich müssen wir uns überzeugen, daß sich die Thatsachen anders verhalten,
als sie von unsern Hervdoten, und Liviussen dargestellt werden. Peter der
Große, der genialste unter den Reformatoren, blickte tiefer als alle andern in
den Abgrund der Barbarei, in welchen unser theures Vaterland versenkt war,
und suchte seine Umwandlung durch vollständiges Losreißen der Gegenwart
von der Vergangenheit zu beginnen. Er verstand besser, als je einer unsre
alte slawische Trägheit und verfolgte sie unbarmherzig in allen Phasen des
gesellschaftlichen Lebens. Er war ein Mensch und konnte manches nicht
voraussehen, manches falsch auffassen, in manchem zu weit gehen, aber wer
von uns wird trotz alledem diesen Regenerator Rußlands nicht bewundern, der
allein in jener Zeit es zu erheben und es mit neuem Leben zu begaben trach¬
tete, während alle andern, alle, selbst die Mitglieder seiner Familie, den von
ihm beabsichtigten Reformen widerstrebten und, seinem unbeugsamen Willen
gehorchend, ihn ungern ausführten, ihn, wo eS nur möglich war, zu umgehen
suchten, mit Hartnäckigkeit an ihrer geliebten Barbarei in geistiger wie in
materieller Beziehung festhaltend.*) Die Beweise hierfür treten uns nicht nur
in den politischen Ereignissen seiner Zeit entgegen, sondern auch in den Er¬
scheinungen, die sich an seine inneren Verbesserungen und Bildungöpläne
knüpften. Von der einen Seite widersetzten sich ihm die Raskolniks, die Fana¬
tiker, von der andern die Vorfahren des von wisinschen Mitrophanuschka**),
von der dritten die Scholastik, die in allen vor Peter dem Großen eristirenden
Lehranstalten tiefe Wurzel geschlagen hatte. Peter hatte keine Zeit, das Volk
zu erziehen, er wollte wenigstens die höhern Stände bilden, aber auch dort
traf er aus Hindernisse, die in der kurzen Periode eines Menschenlebens nicht
zu überwinden waren. Unter Peter konnte es keine Literatur geben, weil es
keine Bildung gab; unter seinen Nachfolgern bis Katharina II. erschienen ein¬
zelne Schriftsteller, der arbeitsame, aber schwerfällige Trcdjakowskji, der. Satiriker
Kantemir, endlich der geniale Lomonossow, alle jedoch vom Geiste der Schola¬
stik getränkt, nur von ausländischen Ideen zehrend. Es gab nicht einmal eine
Sprache. Was unter Peter selbst gedruckt wurde, erschien aus seine specielle
Verordnung, zuweilen unier seiner eignen Mitwirkung; überall mußte er per-




D, N.
Wir theilen dieses für den Standpunkt des Verfassers charakteristische Urtheil über
Peter den Großen mit, ohne natürlich im mindeste» die Verantwortlichkeit dafür zu übernehme»-
Bekanntlich läßt sich vielmehr gar manches dagegen einwenden, und namentlich hat die spätere
Geschichte Rußlands'das Bedenkliche des Versuchs gezeigt, ein Land von seiner Vergangenheit
mit Gewalt „losreißen" zu wolle». D. N.
Mitrophantischka ist der Held des in Rußland für classisch geltenden von wisinschen
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[0478] bringen und Lorbeeren zu pflücken. Endlich müssen aber, mit Karamstn »zu reden, diese schönen Fabeln einer wirklichen historischen Kenntniß Platz machen. Endlich müssen wir uns überzeugen, daß sich die Thatsachen anders verhalten, als sie von unsern Hervdoten, und Liviussen dargestellt werden. Peter der Große, der genialste unter den Reformatoren, blickte tiefer als alle andern in den Abgrund der Barbarei, in welchen unser theures Vaterland versenkt war, und suchte seine Umwandlung durch vollständiges Losreißen der Gegenwart von der Vergangenheit zu beginnen. Er verstand besser, als je einer unsre alte slawische Trägheit und verfolgte sie unbarmherzig in allen Phasen des gesellschaftlichen Lebens. Er war ein Mensch und konnte manches nicht voraussehen, manches falsch auffassen, in manchem zu weit gehen, aber wer von uns wird trotz alledem diesen Regenerator Rußlands nicht bewundern, der allein in jener Zeit es zu erheben und es mit neuem Leben zu begaben trach¬ tete, während alle andern, alle, selbst die Mitglieder seiner Familie, den von ihm beabsichtigten Reformen widerstrebten und, seinem unbeugsamen Willen gehorchend, ihn ungern ausführten, ihn, wo eS nur möglich war, zu umgehen suchten, mit Hartnäckigkeit an ihrer geliebten Barbarei in geistiger wie in materieller Beziehung festhaltend.*) Die Beweise hierfür treten uns nicht nur in den politischen Ereignissen seiner Zeit entgegen, sondern auch in den Er¬ scheinungen, die sich an seine inneren Verbesserungen und Bildungöpläne knüpften. Von der einen Seite widersetzten sich ihm die Raskolniks, die Fana¬ tiker, von der andern die Vorfahren des von wisinschen Mitrophanuschka**), von der dritten die Scholastik, die in allen vor Peter dem Großen eristirenden Lehranstalten tiefe Wurzel geschlagen hatte. Peter hatte keine Zeit, das Volk zu erziehen, er wollte wenigstens die höhern Stände bilden, aber auch dort traf er aus Hindernisse, die in der kurzen Periode eines Menschenlebens nicht zu überwinden waren. Unter Peter konnte es keine Literatur geben, weil es keine Bildung gab; unter seinen Nachfolgern bis Katharina II. erschienen ein¬ zelne Schriftsteller, der arbeitsame, aber schwerfällige Trcdjakowskji, der. Satiriker Kantemir, endlich der geniale Lomonossow, alle jedoch vom Geiste der Schola¬ stik getränkt, nur von ausländischen Ideen zehrend. Es gab nicht einmal eine Sprache. Was unter Peter selbst gedruckt wurde, erschien aus seine specielle Verordnung, zuweilen unier seiner eignen Mitwirkung; überall mußte er per- D, N. Wir theilen dieses für den Standpunkt des Verfassers charakteristische Urtheil über Peter den Großen mit, ohne natürlich im mindeste» die Verantwortlichkeit dafür zu übernehme»- Bekanntlich läßt sich vielmehr gar manches dagegen einwenden, und namentlich hat die spätere Geschichte Rußlands'das Bedenkliche des Versuchs gezeigt, ein Land von seiner Vergangenheit mit Gewalt „losreißen" zu wolle». D. N. Mitrophantischka ist der Held des in Rußland für classisch geltenden von wisinschen Lustspiels „Ne-änrosl", — ein Typus deS alte», verknöcherten moskvwitischcn Landadels.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/478>, abgerufen am 21.06.2024.