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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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des Reichs Epoche macht. Dieses Fest, daS in einem Augenblicke stattfand,
wo der Kanonendonner Sebastopols in dumpfen Schlägen durch ganz Europa
erdröhnte, gab den russischen Gelehrten zur Veröffentlichung mehrer Schriften
Veranlassung, die sich zum Theil speciell auf die moskauer Hochschule, zum
Theil auf die mit ihr in Verbindung stehenden Anstalten und auf das Unter¬
richtswesen Rußlands im Allgemeinen beziehen. In die zweite Kategorie ge¬
hört eine Geschichte der geistlichen Akademie in Moskau, der ältesten Gelehrten¬
schule des großrussischen Landes, in welches die Cultur weit später eindrang,
als in das unter polnischer Herrschaft befindliche Weiß- und Kleinrußland.
Dieses Werk, das den Baccalaureus der Akademie Sergius Smirnow zum Ver¬
fasser hat*> und das wir durch eine Recension Xenophon Polewois, eines der
kundigsten russischen Literarhistoriker, kennen lernen, gibt merkwürdige Auf¬
schlüsse über die Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art,-welche die An¬
fänge der Geistesbildung im mitternächtlichen Reiche der Zaren zu bekämpfen
hatten, über die Bedrückungen und Verfolgungen, welche die ersten Jünger
der Civilisation erdulden mußten, und es dürfte daher nicht ohne Interesse
sein, wenn wir den von dem Recensenten auszugsweise mitgetheilten Inhalt
desselben, mit Weglassung einiger für deutsche Leser unnöthigen Details,
wiedergeben.

"Die Geschichte der russischen Literatur," schreibt Polewoi, "die von der
kirchen-slawvnischen streng zu unterscheiden ist, beginnt erst vor etwa hundert-
funfzig Jahren. Bei einer so kurzen Eristenz verliert sich indeß der Anfang der
russischen Literatur für uns in gewissen unbestimmten, mythengleichen Ueber-
lieferungen, uno der künftige Geschichtschreiber dieser Literatur wird, ein Nie-
buhr in seiner Art, die Fabeln und Legenden von der Wirklichkeit sondern
müssen, um den wahren Ausgangspunkt der litterarischen Thätigkeit des russi¬
schen Geistes festzustellen. Ein solcher Zustand unsrer Literaturgeschichte hat
seinen Grund in dem Mangel an gewissenhafter Forschung und in einem selt¬
samen Vergessen der reichen Materialien, die sich in den Archiven der Akade¬
mien, der Kollegien, der Ministerien und in vielen Privatsammlungen bergen.
Man findet dort gleichzeitige, treue, ungeschmeichelte Zeugnisse, welche die
Wahrheit in ihrer ganzen Blöße zeigen, die aber den Historikern unzugänglich
bleiben, welche unterdessen einer nach dem andern die Versicherung wiederholen,
daß von Peter, dem Großen an und mit dem von ihm zusammengestellten
russische" Alphabet die neuere Geschichte der russischen Literatur, eine neue
Schulbildung, eine europäische Cultur begonnen habe, und daß für Lomo¬
nossow keine andere Aufgabe geblieben sei, als das Begonnene in Ordnung zu



*) Istori" AlosKovsKoi SI"^ano - SroKo -I-"tiusKo1 .-VKqäomii. Sotsolultonio Sorgvjs,
Lminw^, Moskau, '>8Lü. 428 S. 8.

des Reichs Epoche macht. Dieses Fest, daS in einem Augenblicke stattfand,
wo der Kanonendonner Sebastopols in dumpfen Schlägen durch ganz Europa
erdröhnte, gab den russischen Gelehrten zur Veröffentlichung mehrer Schriften
Veranlassung, die sich zum Theil speciell auf die moskauer Hochschule, zum
Theil auf die mit ihr in Verbindung stehenden Anstalten und auf das Unter¬
richtswesen Rußlands im Allgemeinen beziehen. In die zweite Kategorie ge¬
hört eine Geschichte der geistlichen Akademie in Moskau, der ältesten Gelehrten¬
schule des großrussischen Landes, in welches die Cultur weit später eindrang,
als in das unter polnischer Herrschaft befindliche Weiß- und Kleinrußland.
Dieses Werk, das den Baccalaureus der Akademie Sergius Smirnow zum Ver¬
fasser hat*> und das wir durch eine Recension Xenophon Polewois, eines der
kundigsten russischen Literarhistoriker, kennen lernen, gibt merkwürdige Auf¬
schlüsse über die Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art,-welche die An¬
fänge der Geistesbildung im mitternächtlichen Reiche der Zaren zu bekämpfen
hatten, über die Bedrückungen und Verfolgungen, welche die ersten Jünger
der Civilisation erdulden mußten, und es dürfte daher nicht ohne Interesse
sein, wenn wir den von dem Recensenten auszugsweise mitgetheilten Inhalt
desselben, mit Weglassung einiger für deutsche Leser unnöthigen Details,
wiedergeben.

„Die Geschichte der russischen Literatur," schreibt Polewoi, „die von der
kirchen-slawvnischen streng zu unterscheiden ist, beginnt erst vor etwa hundert-
funfzig Jahren. Bei einer so kurzen Eristenz verliert sich indeß der Anfang der
russischen Literatur für uns in gewissen unbestimmten, mythengleichen Ueber-
lieferungen, uno der künftige Geschichtschreiber dieser Literatur wird, ein Nie-
buhr in seiner Art, die Fabeln und Legenden von der Wirklichkeit sondern
müssen, um den wahren Ausgangspunkt der litterarischen Thätigkeit des russi¬
schen Geistes festzustellen. Ein solcher Zustand unsrer Literaturgeschichte hat
seinen Grund in dem Mangel an gewissenhafter Forschung und in einem selt¬
samen Vergessen der reichen Materialien, die sich in den Archiven der Akade¬
mien, der Kollegien, der Ministerien und in vielen Privatsammlungen bergen.
Man findet dort gleichzeitige, treue, ungeschmeichelte Zeugnisse, welche die
Wahrheit in ihrer ganzen Blöße zeigen, die aber den Historikern unzugänglich
bleiben, welche unterdessen einer nach dem andern die Versicherung wiederholen,
daß von Peter, dem Großen an und mit dem von ihm zusammengestellten
russische» Alphabet die neuere Geschichte der russischen Literatur, eine neue
Schulbildung, eine europäische Cultur begonnen habe, und daß für Lomo¬
nossow keine andere Aufgabe geblieben sei, als das Begonnene in Ordnung zu



*) Istori» AlosKovsKoi SI»^ano - SroKo -I-»tiusKo1 .-VKqäomii. Sotsolultonio Sorgvjs,
Lminw^, Moskau, '>8Lü. 428 S. 8.
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[0477] des Reichs Epoche macht. Dieses Fest, daS in einem Augenblicke stattfand, wo der Kanonendonner Sebastopols in dumpfen Schlägen durch ganz Europa erdröhnte, gab den russischen Gelehrten zur Veröffentlichung mehrer Schriften Veranlassung, die sich zum Theil speciell auf die moskauer Hochschule, zum Theil auf die mit ihr in Verbindung stehenden Anstalten und auf das Unter¬ richtswesen Rußlands im Allgemeinen beziehen. In die zweite Kategorie ge¬ hört eine Geschichte der geistlichen Akademie in Moskau, der ältesten Gelehrten¬ schule des großrussischen Landes, in welches die Cultur weit später eindrang, als in das unter polnischer Herrschaft befindliche Weiß- und Kleinrußland. Dieses Werk, das den Baccalaureus der Akademie Sergius Smirnow zum Ver¬ fasser hat*> und das wir durch eine Recension Xenophon Polewois, eines der kundigsten russischen Literarhistoriker, kennen lernen, gibt merkwürdige Auf¬ schlüsse über die Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art,-welche die An¬ fänge der Geistesbildung im mitternächtlichen Reiche der Zaren zu bekämpfen hatten, über die Bedrückungen und Verfolgungen, welche die ersten Jünger der Civilisation erdulden mußten, und es dürfte daher nicht ohne Interesse sein, wenn wir den von dem Recensenten auszugsweise mitgetheilten Inhalt desselben, mit Weglassung einiger für deutsche Leser unnöthigen Details, wiedergeben. „Die Geschichte der russischen Literatur," schreibt Polewoi, „die von der kirchen-slawvnischen streng zu unterscheiden ist, beginnt erst vor etwa hundert- funfzig Jahren. Bei einer so kurzen Eristenz verliert sich indeß der Anfang der russischen Literatur für uns in gewissen unbestimmten, mythengleichen Ueber- lieferungen, uno der künftige Geschichtschreiber dieser Literatur wird, ein Nie- buhr in seiner Art, die Fabeln und Legenden von der Wirklichkeit sondern müssen, um den wahren Ausgangspunkt der litterarischen Thätigkeit des russi¬ schen Geistes festzustellen. Ein solcher Zustand unsrer Literaturgeschichte hat seinen Grund in dem Mangel an gewissenhafter Forschung und in einem selt¬ samen Vergessen der reichen Materialien, die sich in den Archiven der Akade¬ mien, der Kollegien, der Ministerien und in vielen Privatsammlungen bergen. Man findet dort gleichzeitige, treue, ungeschmeichelte Zeugnisse, welche die Wahrheit in ihrer ganzen Blöße zeigen, die aber den Historikern unzugänglich bleiben, welche unterdessen einer nach dem andern die Versicherung wiederholen, daß von Peter, dem Großen an und mit dem von ihm zusammengestellten russische» Alphabet die neuere Geschichte der russischen Literatur, eine neue Schulbildung, eine europäische Cultur begonnen habe, und daß für Lomo¬ nossow keine andere Aufgabe geblieben sei, als das Begonnene in Ordnung zu *) Istori» AlosKovsKoi SI»^ano - SroKo -I-»tiusKo1 .-VKqäomii. Sotsolultonio Sorgvjs, Lminw^, Moskau, '>8Lü. 428 S. 8.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/477>, abgerufen am 21.06.2024.