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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Die Physiognomie der.londoner Straßen und Stadttheile ist des Studiums
im hohen Grade würdig. Die feingeschnittenen Züge eines englischen Aristo¬
kraten können von dem Alltagsgesicht eines Aldermans nicht verschiedener sein,
als das vornehme Belgravian Square von seinem gemeinen Nachbar in
Barbican ist, und wie es in der Gesellschaft eine Mittelclasse gibt zwischen dem
Adel und dem Kleinbürger, welche als Muster ostensibler Vornehmheit be¬
trachtet werden mag (hierher gehören die Bankiers, die bekanntern Advocaten
und Aerzte u. s. w.), so haben wir in London auch eine Classe von Oertlich-
keiten, die weder zu den gemeinen noch zu den vornehmen im engern Sinne
des Worts gehören, sondern durch ihren architektonischen Charakter ungefähr
ihren Bewohnern, die man als "prot'essioriÄl A'öntry" bezeichnen kann, ent¬
sprechen.

Wenn uns der Leser durch die Straßen folgt, welche Fitzroy Square um¬
geben, so bedarf es keiner messingenen Platten mit Namens- und Standes¬
angabe an'den Thüren, um uns zu sagen, daß dies das londoner Künstler¬
quartier ist. In der Mitte des ersten Stocks befindet sich ein hohes Fenster,
die Läden sind am hellen Tage geschlossen, mir Ausnahme des obersten Theils,
welcher das "Oberlicht" einläßt. Die mit Spinneweben behangenen Fenster-
Icheiben und die stachen Stöcke der altmodischen Nouleaur, die in Unordnung
herumhängen -- alles bezeichnet die Wohnung von Leuten, die schwerlich zu
der wohlhäbigen Classe gehören. Man bemerkt serner, indem man weiter geht,
Läden mit Farbentöpfen in den Fenstern, Gemälde in Wasserfarben, die zum
Verkauf ausgestellt sind und große braune Photographien, und in einer andern
Straße neben der ersten befinden sich Waarenhäuser mit Gipsabgüssen, Hän¬
den, Füßen, die in Gips modellirt sind und Figuren von Pferdni, die alle
Muskeln zeigen. Wer nach diesem nicht sofort inne wird, daß hier die Herren
Hanse"', die sich durchaus mit wunderlichen Bärten und Hüten und einer ma¬
lerischen Manteldrapirung kenntlich machen zu müssen glauben, bedarf mehr
als einer Brille, um seinen Scharfblick zu stärke".

' Machen wir uns dann über Regentstreet nach Saville Now auf den Weg
und kommen wir um die MittagSstuuve dort an, so brauchen wir ebensowenig
wie dort nach den mes/lugnen Thürschildern zu sehe", um zu erfahren, daß
hier in jedem zweiten Hause ein Aizt oder Wundarzt von Ruf wohnt. Fast
vor jeder Schwelle hätt eine bespritzte Kutsche, mir abgetrieben aussehende"
Pferden bespannt, und fortwährend gehen und komme" aus den Thüren bleicht
Gesichter mit schwarze" Nespiratvre" vo-r dem Munde, und man ist überzeugt,
baß ti.e Gesellschaft, die hier wohnt, eben im Begriff steht, ihre Rundreise'
durch die Stadt zu macheu und -- für zehn Guineen die Stunde -- ^"
paar Dutzend Pulse zu befühlen und die gleiche Zahl von Zungen zu be¬
augenscheinigen.


Die Physiognomie der.londoner Straßen und Stadttheile ist des Studiums
im hohen Grade würdig. Die feingeschnittenen Züge eines englischen Aristo¬
kraten können von dem Alltagsgesicht eines Aldermans nicht verschiedener sein,
als das vornehme Belgravian Square von seinem gemeinen Nachbar in
Barbican ist, und wie es in der Gesellschaft eine Mittelclasse gibt zwischen dem
Adel und dem Kleinbürger, welche als Muster ostensibler Vornehmheit be¬
trachtet werden mag (hierher gehören die Bankiers, die bekanntern Advocaten
und Aerzte u. s. w.), so haben wir in London auch eine Classe von Oertlich-
keiten, die weder zu den gemeinen noch zu den vornehmen im engern Sinne
des Worts gehören, sondern durch ihren architektonischen Charakter ungefähr
ihren Bewohnern, die man als „prot'essioriÄl A'öntry" bezeichnen kann, ent¬
sprechen.

Wenn uns der Leser durch die Straßen folgt, welche Fitzroy Square um¬
geben, so bedarf es keiner messingenen Platten mit Namens- und Standes¬
angabe an'den Thüren, um uns zu sagen, daß dies das londoner Künstler¬
quartier ist. In der Mitte des ersten Stocks befindet sich ein hohes Fenster,
die Läden sind am hellen Tage geschlossen, mir Ausnahme des obersten Theils,
welcher das „Oberlicht" einläßt. Die mit Spinneweben behangenen Fenster-
Icheiben und die stachen Stöcke der altmodischen Nouleaur, die in Unordnung
herumhängen — alles bezeichnet die Wohnung von Leuten, die schwerlich zu
der wohlhäbigen Classe gehören. Man bemerkt serner, indem man weiter geht,
Läden mit Farbentöpfen in den Fenstern, Gemälde in Wasserfarben, die zum
Verkauf ausgestellt sind und große braune Photographien, und in einer andern
Straße neben der ersten befinden sich Waarenhäuser mit Gipsabgüssen, Hän¬
den, Füßen, die in Gips modellirt sind und Figuren von Pferdni, die alle
Muskeln zeigen. Wer nach diesem nicht sofort inne wird, daß hier die Herren
Hanse»', die sich durchaus mit wunderlichen Bärten und Hüten und einer ma¬
lerischen Manteldrapirung kenntlich machen zu müssen glauben, bedarf mehr
als einer Brille, um seinen Scharfblick zu stärke».

' Machen wir uns dann über Regentstreet nach Saville Now auf den Weg
und kommen wir um die MittagSstuuve dort an, so brauchen wir ebensowenig
wie dort nach den mes/lugnen Thürschildern zu sehe», um zu erfahren, daß
hier in jedem zweiten Hause ein Aizt oder Wundarzt von Ruf wohnt. Fast
vor jeder Schwelle hätt eine bespritzte Kutsche, mir abgetrieben aussehende»
Pferden bespannt, und fortwährend gehen und komme» aus den Thüren bleicht
Gesichter mit schwarze» Nespiratvre» vo-r dem Munde, und man ist überzeugt,
baß ti.e Gesellschaft, die hier wohnt, eben im Begriff steht, ihre Rundreise'
durch die Stadt zu macheu und — für zehn Guineen die Stunde — ^"
paar Dutzend Pulse zu befühlen und die gleiche Zahl von Zungen zu be¬
augenscheinigen.


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[0456] Die Physiognomie der.londoner Straßen und Stadttheile ist des Studiums im hohen Grade würdig. Die feingeschnittenen Züge eines englischen Aristo¬ kraten können von dem Alltagsgesicht eines Aldermans nicht verschiedener sein, als das vornehme Belgravian Square von seinem gemeinen Nachbar in Barbican ist, und wie es in der Gesellschaft eine Mittelclasse gibt zwischen dem Adel und dem Kleinbürger, welche als Muster ostensibler Vornehmheit be¬ trachtet werden mag (hierher gehören die Bankiers, die bekanntern Advocaten und Aerzte u. s. w.), so haben wir in London auch eine Classe von Oertlich- keiten, die weder zu den gemeinen noch zu den vornehmen im engern Sinne des Worts gehören, sondern durch ihren architektonischen Charakter ungefähr ihren Bewohnern, die man als „prot'essioriÄl A'öntry" bezeichnen kann, ent¬ sprechen. Wenn uns der Leser durch die Straßen folgt, welche Fitzroy Square um¬ geben, so bedarf es keiner messingenen Platten mit Namens- und Standes¬ angabe an'den Thüren, um uns zu sagen, daß dies das londoner Künstler¬ quartier ist. In der Mitte des ersten Stocks befindet sich ein hohes Fenster, die Läden sind am hellen Tage geschlossen, mir Ausnahme des obersten Theils, welcher das „Oberlicht" einläßt. Die mit Spinneweben behangenen Fenster- Icheiben und die stachen Stöcke der altmodischen Nouleaur, die in Unordnung herumhängen — alles bezeichnet die Wohnung von Leuten, die schwerlich zu der wohlhäbigen Classe gehören. Man bemerkt serner, indem man weiter geht, Läden mit Farbentöpfen in den Fenstern, Gemälde in Wasserfarben, die zum Verkauf ausgestellt sind und große braune Photographien, und in einer andern Straße neben der ersten befinden sich Waarenhäuser mit Gipsabgüssen, Hän¬ den, Füßen, die in Gips modellirt sind und Figuren von Pferdni, die alle Muskeln zeigen. Wer nach diesem nicht sofort inne wird, daß hier die Herren Hanse»', die sich durchaus mit wunderlichen Bärten und Hüten und einer ma¬ lerischen Manteldrapirung kenntlich machen zu müssen glauben, bedarf mehr als einer Brille, um seinen Scharfblick zu stärke». ' Machen wir uns dann über Regentstreet nach Saville Now auf den Weg und kommen wir um die MittagSstuuve dort an, so brauchen wir ebensowenig wie dort nach den mes/lugnen Thürschildern zu sehe», um zu erfahren, daß hier in jedem zweiten Hause ein Aizt oder Wundarzt von Ruf wohnt. Fast vor jeder Schwelle hätt eine bespritzte Kutsche, mir abgetrieben aussehende» Pferden bespannt, und fortwährend gehen und komme» aus den Thüren bleicht Gesichter mit schwarze» Nespiratvre» vo-r dem Munde, und man ist überzeugt, baß ti.e Gesellschaft, die hier wohnt, eben im Begriff steht, ihre Rundreise' durch die Stadt zu macheu und — für zehn Guineen die Stunde — ^" paar Dutzend Pulse zu befühlen und die gleiche Zahl von Zungen zu be¬ augenscheinigen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/456>, abgerufen am 21.06.2024.