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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Östreichische Grenzbilder.
.2. V

Wiederum lasse steh unser Leser an die Stelle führen, die man gemeinhin
als die Grenzscheide deutscher Bildung zu bezeichnen pflegt, obwol diese Be¬
zeichnung nur theilweise richtig ist, da der Deutsche sich mit Stolz bewußt sein
darf, daß die Elemente seiner Cultur jetzt theils zersetzend, theils umbildend
viel weiter in die benachbarten Nationalitäten eindringen.

Wollte nur die deutsche Cultur kräftig genug wirken, auch die entferntem
Theile des politisch abgegrenzten Deutschlands zu durchdringen und auch die
bis jetzt vernachlässigten Landstriche zu beglücken, die auf ihren wohlthätigen
Einfluß ein Recht haben. Wir werden erfahren, wie viel sie hier an der
Preußisch-polnischen Grenze noch zu schaffen hätte.

Es ist eine ausgemachte Sache, daß die Beobachtung des Grenzlebens
nicht nur hier, sondern fast überall des Merkwürdigen mehr erschauen läßt,
daß wir wenigstens hier des Merkwürdigen mehr zu suchen gewohnt sind als
im Innern der Länder. Hier begegnen sich die Völker und offenbaren sich
gegenseitig die Geheimnisse ihres Daseins. Abweisend und entgegennehmend
zeigen sie uns die Verschiedenheit ihrer Sitten und ihres ganzen geistigen
Habitus: eine Wechselwirkung, deren steh auch bei dem ernstesten Widerstreben
kein Theil erwehren kann.

Am klarsten zeigt steh auf der besagten Stelle die Verschmelzung des
deutschen und slawischen Elements wie überall in der Sprache. Dieser masu-
rische Dialekt ist vorwiegend polnisch, doch so sehr mit deutschen Worten unter¬
mischt, daß es uns oft nicht schwer fallen dürfte, den Masuren theilweise zu
verstehn. Besonders die Bezeichnungen aller Gegenstände, welche der Masur
blos aus dem Umgange mit der deutsch gebildeten Bevölkerung kennen gelernt
hat, nimmt er aus der Sprache der letztern auf, indem er sie sich nur durch
die polnische Endung Ki oder Ka.mundgerecht macht. Der meistens in tiefem
Elend oder doch in natürlicher Rohheit lebende Grenzpole kennt ein Ding
'wie eine Lichtputze, einen Fensterladen kaum aus der Anschauung, hat daher
auch kein Wort für dasselbe, und so begnügt sich der Masur ganz kurz mit
der Bezeichnung Mtsodsi-Ki (Putzscheere) kenswrluclki u. s. w. -- Aber diese
Zusammeuwürflung deutscher und polnischer Sprachelemente in dem masurischen
Dialekte geht noch weiter. Es herrscht gleichsam das Uebereinkommen, neben
den ausschließlich polnischen Vocabeln auch die polonisirten deutschen gelten zu
^sser, wenn auch Sätze wie: moi vaclvre^K span lucluki, sapal Kr<me/.Kt --
Mein Vater fiel von der Lundt (dem Boden) und brach das Kreuz -- mehr
Aaas einem scherzhaft entstellten Deutsch, als nach einem wirklichen Dialekt


Grenzboten. II. -I8ö6. ö4
Östreichische Grenzbilder.
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Wiederum lasse steh unser Leser an die Stelle führen, die man gemeinhin
als die Grenzscheide deutscher Bildung zu bezeichnen pflegt, obwol diese Be¬
zeichnung nur theilweise richtig ist, da der Deutsche sich mit Stolz bewußt sein
darf, daß die Elemente seiner Cultur jetzt theils zersetzend, theils umbildend
viel weiter in die benachbarten Nationalitäten eindringen.

Wollte nur die deutsche Cultur kräftig genug wirken, auch die entferntem
Theile des politisch abgegrenzten Deutschlands zu durchdringen und auch die
bis jetzt vernachlässigten Landstriche zu beglücken, die auf ihren wohlthätigen
Einfluß ein Recht haben. Wir werden erfahren, wie viel sie hier an der
Preußisch-polnischen Grenze noch zu schaffen hätte.

Es ist eine ausgemachte Sache, daß die Beobachtung des Grenzlebens
nicht nur hier, sondern fast überall des Merkwürdigen mehr erschauen läßt,
daß wir wenigstens hier des Merkwürdigen mehr zu suchen gewohnt sind als
im Innern der Länder. Hier begegnen sich die Völker und offenbaren sich
gegenseitig die Geheimnisse ihres Daseins. Abweisend und entgegennehmend
zeigen sie uns die Verschiedenheit ihrer Sitten und ihres ganzen geistigen
Habitus: eine Wechselwirkung, deren steh auch bei dem ernstesten Widerstreben
kein Theil erwehren kann.

Am klarsten zeigt steh auf der besagten Stelle die Verschmelzung des
deutschen und slawischen Elements wie überall in der Sprache. Dieser masu-
rische Dialekt ist vorwiegend polnisch, doch so sehr mit deutschen Worten unter¬
mischt, daß es uns oft nicht schwer fallen dürfte, den Masuren theilweise zu
verstehn. Besonders die Bezeichnungen aller Gegenstände, welche der Masur
blos aus dem Umgange mit der deutsch gebildeten Bevölkerung kennen gelernt
hat, nimmt er aus der Sprache der letztern auf, indem er sie sich nur durch
die polnische Endung Ki oder Ka.mundgerecht macht. Der meistens in tiefem
Elend oder doch in natürlicher Rohheit lebende Grenzpole kennt ein Ding
'wie eine Lichtputze, einen Fensterladen kaum aus der Anschauung, hat daher
auch kein Wort für dasselbe, und so begnügt sich der Masur ganz kurz mit
der Bezeichnung Mtsodsi-Ki (Putzscheere) kenswrluclki u. s. w. — Aber diese
Zusammeuwürflung deutscher und polnischer Sprachelemente in dem masurischen
Dialekte geht noch weiter. Es herrscht gleichsam das Uebereinkommen, neben
den ausschließlich polnischen Vocabeln auch die polonisirten deutschen gelten zu
^sser, wenn auch Sätze wie: moi vaclvre^K span lucluki, sapal Kr<me/.Kt —
Mein Vater fiel von der Lundt (dem Boden) und brach das Kreuz — mehr
Aaas einem scherzhaft entstellten Deutsch, als nach einem wirklichen Dialekt


Grenzboten. II. -I8ö6. ö4
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[0433] Östreichische Grenzbilder. .2. V Wiederum lasse steh unser Leser an die Stelle führen, die man gemeinhin als die Grenzscheide deutscher Bildung zu bezeichnen pflegt, obwol diese Be¬ zeichnung nur theilweise richtig ist, da der Deutsche sich mit Stolz bewußt sein darf, daß die Elemente seiner Cultur jetzt theils zersetzend, theils umbildend viel weiter in die benachbarten Nationalitäten eindringen. Wollte nur die deutsche Cultur kräftig genug wirken, auch die entferntem Theile des politisch abgegrenzten Deutschlands zu durchdringen und auch die bis jetzt vernachlässigten Landstriche zu beglücken, die auf ihren wohlthätigen Einfluß ein Recht haben. Wir werden erfahren, wie viel sie hier an der Preußisch-polnischen Grenze noch zu schaffen hätte. Es ist eine ausgemachte Sache, daß die Beobachtung des Grenzlebens nicht nur hier, sondern fast überall des Merkwürdigen mehr erschauen läßt, daß wir wenigstens hier des Merkwürdigen mehr zu suchen gewohnt sind als im Innern der Länder. Hier begegnen sich die Völker und offenbaren sich gegenseitig die Geheimnisse ihres Daseins. Abweisend und entgegennehmend zeigen sie uns die Verschiedenheit ihrer Sitten und ihres ganzen geistigen Habitus: eine Wechselwirkung, deren steh auch bei dem ernstesten Widerstreben kein Theil erwehren kann. Am klarsten zeigt steh auf der besagten Stelle die Verschmelzung des deutschen und slawischen Elements wie überall in der Sprache. Dieser masu- rische Dialekt ist vorwiegend polnisch, doch so sehr mit deutschen Worten unter¬ mischt, daß es uns oft nicht schwer fallen dürfte, den Masuren theilweise zu verstehn. Besonders die Bezeichnungen aller Gegenstände, welche der Masur blos aus dem Umgange mit der deutsch gebildeten Bevölkerung kennen gelernt hat, nimmt er aus der Sprache der letztern auf, indem er sie sich nur durch die polnische Endung Ki oder Ka.mundgerecht macht. Der meistens in tiefem Elend oder doch in natürlicher Rohheit lebende Grenzpole kennt ein Ding 'wie eine Lichtputze, einen Fensterladen kaum aus der Anschauung, hat daher auch kein Wort für dasselbe, und so begnügt sich der Masur ganz kurz mit der Bezeichnung Mtsodsi-Ki (Putzscheere) kenswrluclki u. s. w. — Aber diese Zusammeuwürflung deutscher und polnischer Sprachelemente in dem masurischen Dialekte geht noch weiter. Es herrscht gleichsam das Uebereinkommen, neben den ausschließlich polnischen Vocabeln auch die polonisirten deutschen gelten zu ^sser, wenn auch Sätze wie: moi vaclvre^K span lucluki, sapal Kr<me/.Kt — Mein Vater fiel von der Lundt (dem Boden) und brach das Kreuz — mehr Aaas einem scherzhaft entstellten Deutsch, als nach einem wirklichen Dialekt Grenzboten. II. -I8ö6. ö4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/433>, abgerufen am 27.06.2024.