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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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ist Charing Croß für die londoner Droschkenkutscher--das Zero, nach welchem
alle Längen der hauptstädtischen Welt gemessen werden.

Sodann hat diese londoner Welt, ganz wie die Erde, von der sie einen
Theil bildet, ihre großen Continente; denn was sind die ungeheuern jenseits
der Themse liegenden Gebiete von Southwark und Lambeth anders, als solche
Continente? Ferner sind die Oertlichkeiten von Se. Benetfink und von Se.
Benetsherehog , ja selbst von Beviö Marks, im Herzen der City, für den grö߬
ten Theil der Londoner selbst, ganz ebenso eine terra Ineognitir als der Tschad¬
see im Innern Afrikas für alle, mit Ausnahme der Laubers und Barths.

Und wiederum, was das Volk der Riesenstadt betrifft, so ist der feingebil¬
dete Pariser nicht weiter verschieden von dem barbarischen Botokuden., als der
duftende Dandy der Almacksbälle von dem echten Billingsgate-Nough. Die
Ethnologen haben die verschiedenen Geschlechter der Menschheit in fünf scharf¬
getrennte Typen oder Racen eingetheilt, aber sicherlich sind die Richter, welche
in den Gerichtshöfen von Westminster den Vorsitz führen, moralisch ganz eben¬
so verschieden von den jüdischen Diebshehlern in Petticoat Lane, als die kau¬
kasische Race von der malayischen. Steht nicht der "yet x-arson" einer pnseyi-
schen Kapelle in West End ethisch wie physisch dem londoner Borerhaupthahn,
und steht nicht dieser wieder dem Alderman der City durchaus so fern, wie der
Neger dem Mongolen, oder der Mongole der amerikanischen Rothhaut?

Fürwahr, wir finden in der londoner Welt fast jede geographische Species
der menschlichen Familie. Wenn Arabien seine Nomadenstämme hat, so hat
die britische Metropole ihre wandernden Horden gleichfalls. Wenn die kmai-
bischen Inseln ihre Wilden haben, so zeigt die Hauptstadt Englands nicht
weniger thierische und uncivilisirte Typen. Wenn Indien seine Thugs hat,
so besitzt London seine "Ksrotls usu".

Ebensowenig sind die religiösen Glaubensbekenntnisse der ganzen Erd¬
kugel vielartiger, als die der englischen Riesenstadt. Wir lächeln mitleidig über
.die Stämme der Bight of Berlin, welche eine Eidechse zu ihrem Lieblingsgotte
gemacht haben, ziehen die Augenbrauen vor Staunen in die Höhe und schlagen
die Hände zusammen, wenn wir hören, baß die Bissagos einen Hahn, wie
er bei uns auf dem Scheunthor sitzt, mit Gebeten verehren. Aber haben wir
nicht unter uns, in dieser "hocherleuchtcten Metropole" und in diesen "hoch¬
gebildeten Zeiten" Leute, welche deS andächtigen Glaubens leben, daß Frau
Johanna Southcott erwählt war, die Mutter des Messias zu werden? andre,
welche moralisch überzeugt sind, daß Jvv Smith von dem Allmächtigen das
Buch Mormon in die Feder dictirt wurde, ein liegengebliebener Roman, den
Tausende als zweites Evangelium ansehen? wieder andre, welche eine beson¬
dere Offenbarung finden in dem Geplapper verrückter Weibsbilder, dem "Re¬
den in unbekannten Zungen", wie sie es nennen? und noch andre, die steif


ist Charing Croß für die londoner Droschkenkutscher—das Zero, nach welchem
alle Längen der hauptstädtischen Welt gemessen werden.

Sodann hat diese londoner Welt, ganz wie die Erde, von der sie einen
Theil bildet, ihre großen Continente; denn was sind die ungeheuern jenseits
der Themse liegenden Gebiete von Southwark und Lambeth anders, als solche
Continente? Ferner sind die Oertlichkeiten von Se. Benetfink und von Se.
Benetsherehog , ja selbst von Beviö Marks, im Herzen der City, für den grö߬
ten Theil der Londoner selbst, ganz ebenso eine terra Ineognitir als der Tschad¬
see im Innern Afrikas für alle, mit Ausnahme der Laubers und Barths.

Und wiederum, was das Volk der Riesenstadt betrifft, so ist der feingebil¬
dete Pariser nicht weiter verschieden von dem barbarischen Botokuden., als der
duftende Dandy der Almacksbälle von dem echten Billingsgate-Nough. Die
Ethnologen haben die verschiedenen Geschlechter der Menschheit in fünf scharf¬
getrennte Typen oder Racen eingetheilt, aber sicherlich sind die Richter, welche
in den Gerichtshöfen von Westminster den Vorsitz führen, moralisch ganz eben¬
so verschieden von den jüdischen Diebshehlern in Petticoat Lane, als die kau¬
kasische Race von der malayischen. Steht nicht der „yet x-arson" einer pnseyi-
schen Kapelle in West End ethisch wie physisch dem londoner Borerhaupthahn,
und steht nicht dieser wieder dem Alderman der City durchaus so fern, wie der
Neger dem Mongolen, oder der Mongole der amerikanischen Rothhaut?

Fürwahr, wir finden in der londoner Welt fast jede geographische Species
der menschlichen Familie. Wenn Arabien seine Nomadenstämme hat, so hat
die britische Metropole ihre wandernden Horden gleichfalls. Wenn die kmai-
bischen Inseln ihre Wilden haben, so zeigt die Hauptstadt Englands nicht
weniger thierische und uncivilisirte Typen. Wenn Indien seine Thugs hat,
so besitzt London seine „Ksrotls usu".

Ebensowenig sind die religiösen Glaubensbekenntnisse der ganzen Erd¬
kugel vielartiger, als die der englischen Riesenstadt. Wir lächeln mitleidig über
.die Stämme der Bight of Berlin, welche eine Eidechse zu ihrem Lieblingsgotte
gemacht haben, ziehen die Augenbrauen vor Staunen in die Höhe und schlagen
die Hände zusammen, wenn wir hören, baß die Bissagos einen Hahn, wie
er bei uns auf dem Scheunthor sitzt, mit Gebeten verehren. Aber haben wir
nicht unter uns, in dieser „hocherleuchtcten Metropole" und in diesen „hoch¬
gebildeten Zeiten" Leute, welche deS andächtigen Glaubens leben, daß Frau
Johanna Southcott erwählt war, die Mutter des Messias zu werden? andre,
welche moralisch überzeugt sind, daß Jvv Smith von dem Allmächtigen das
Buch Mormon in die Feder dictirt wurde, ein liegengebliebener Roman, den
Tausende als zweites Evangelium ansehen? wieder andre, welche eine beson¬
dere Offenbarung finden in dem Geplapper verrückter Weibsbilder, dem „Re¬
den in unbekannten Zungen", wie sie es nennen? und noch andre, die steif


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/418>, abgerufen am 27.06.2024.