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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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zunächst in ihren Extravaganzen. Nehmen wir z. B. G. Sands Lelia,
Spindion, Gabriel und ähnliche Phantasiebilder, und halten dagegen Balzacs
Lo^us Lambert, Seraphitus und die sämmtlichen Novellen, die er im sogenann¬
ten mystischen Buch gesammelt hat, so finden wir fast gar keinen Unterschied.
Die glühend gläubige Frau phantasirt grade ebenso, wie der grübelnde Skeptiker;
bei jener ist der Glaube ein Rausch, bei diesem der Zweifel. Aber auch ihre
bessern Seiten haben etwas Verwandtes. Was G. Sand betrifft, so geben
wir gern zu, daß ihr Enthusiasmus zuweilen eine hinreißende Wirkung aus¬
übt, aber doch nur in seltenen Fällen. Ihre raffinirten Erfindungen, nicht
blos die Lelia, sondern auch Jndiana, Jacques (den Balzac auch könnte ge¬
schrieben haben), is 8Lor6tairö inlimo, Leo Leoni :c. machen aus uns grade
einen so unangenehmen Eindruck, wie Balzacs Phantasien aus der pariser Ge¬
sellschaft, z. B. pers Koriot. Dagegen besitzt G. Sand einen wunderbaren
Reiz, wo sie das helle Sonnenlicht ihrer Poesie aus die Realität fallen läßt,
wie in dem Teufelssumpf, in Horace, Andr6 :c., so wie uns Balzac dann am
meisten ergreift, wenn er seine Sonde nicht an die Ueberschreitungen des Ver¬
standes und des Willens, sondern an das menschliche Herz legt, wie Eugvnie
Grandet. Die beiden Dichter sind gewissermaßen zwei Pole, die nur in der
Vereinigung etwas Ganzes bilden, denn die bloße Synthese ist ebenso unfrucht¬
bar wie die bloße Analyse. G. Sand gesteht selbst zu, daß Balzac einen sehr
großen Einfluß auf sie ausgeübt hat; einen nützlichen, denn er schärfte ihr
Auge für die Farben des Lebens, einen schädlichen, denn er steigerte ihre Neigung
zu,in Raffinement und gab ihr die Mittel an die Hand, es noch weiter auszu¬
dehnen. Im Stil verdient G. Sand unzweifelhaft den Vorzug, denn Balzacs
Schreibart steht auch in den besten Fällen hart an der Grenze des Barocken.
Aber auch hier kann man sagen, daß Balzac dann am besten schreibt, wenn
er einmal seinem Gemüth freien Spielraum läßt, und G. Sand, wenn sie ihre
leidenschaftliche Rhetorik mäßigt. Wäre Balzac nicht von jener Großmanns¬
sucht besessen gewesen, welche die Erbkrankheit unsers Jahrhunderts zu sein
scheint, hätte er nicht das eitle Streben gehegt, aus seinen individuell sehr
interessanten Bildern ein Totalbild der menschlichen Gesellschaft zusammen¬
zusetzen, und hätte er nicht in der Weise Jean Pauls seinen Stil systematisch
corrumpirt, so würden wir ihm vielleicht classische Werke verdanken; und wäre
G. Sand nicht von dem Dämon der Philosophie besessen gewesen und hätte
sich durch ihn in das Gebiet der Reflexion verleiten lassen, wozu sie nur ein sehr
mäßiges Talent besitzt, so würde gleichfalls die Zahl ihrer vollendeten Schöpfungen
größer sein. Indessen diese Wünsche sind eitel, da bei der einen die Emanci¬
pation des Weibes, bei dem andern in, i'öcdöicdö 6"; l'absow das ursprüng¬
liche Motiv waren, und auch bei der beschränkten Anerkennung, die sie gegen¬
wärtig verdienen, stehen sie doch weit über allen ihren Mitbewerbern.




zunächst in ihren Extravaganzen. Nehmen wir z. B. G. Sands Lelia,
Spindion, Gabriel und ähnliche Phantasiebilder, und halten dagegen Balzacs
Lo^us Lambert, Seraphitus und die sämmtlichen Novellen, die er im sogenann¬
ten mystischen Buch gesammelt hat, so finden wir fast gar keinen Unterschied.
Die glühend gläubige Frau phantasirt grade ebenso, wie der grübelnde Skeptiker;
bei jener ist der Glaube ein Rausch, bei diesem der Zweifel. Aber auch ihre
bessern Seiten haben etwas Verwandtes. Was G. Sand betrifft, so geben
wir gern zu, daß ihr Enthusiasmus zuweilen eine hinreißende Wirkung aus¬
übt, aber doch nur in seltenen Fällen. Ihre raffinirten Erfindungen, nicht
blos die Lelia, sondern auch Jndiana, Jacques (den Balzac auch könnte ge¬
schrieben haben), is 8Lor6tairö inlimo, Leo Leoni :c. machen aus uns grade
einen so unangenehmen Eindruck, wie Balzacs Phantasien aus der pariser Ge¬
sellschaft, z. B. pers Koriot. Dagegen besitzt G. Sand einen wunderbaren
Reiz, wo sie das helle Sonnenlicht ihrer Poesie aus die Realität fallen läßt,
wie in dem Teufelssumpf, in Horace, Andr6 :c., so wie uns Balzac dann am
meisten ergreift, wenn er seine Sonde nicht an die Ueberschreitungen des Ver¬
standes und des Willens, sondern an das menschliche Herz legt, wie Eugvnie
Grandet. Die beiden Dichter sind gewissermaßen zwei Pole, die nur in der
Vereinigung etwas Ganzes bilden, denn die bloße Synthese ist ebenso unfrucht¬
bar wie die bloße Analyse. G. Sand gesteht selbst zu, daß Balzac einen sehr
großen Einfluß auf sie ausgeübt hat; einen nützlichen, denn er schärfte ihr
Auge für die Farben des Lebens, einen schädlichen, denn er steigerte ihre Neigung
zu,in Raffinement und gab ihr die Mittel an die Hand, es noch weiter auszu¬
dehnen. Im Stil verdient G. Sand unzweifelhaft den Vorzug, denn Balzacs
Schreibart steht auch in den besten Fällen hart an der Grenze des Barocken.
Aber auch hier kann man sagen, daß Balzac dann am besten schreibt, wenn
er einmal seinem Gemüth freien Spielraum läßt, und G. Sand, wenn sie ihre
leidenschaftliche Rhetorik mäßigt. Wäre Balzac nicht von jener Großmanns¬
sucht besessen gewesen, welche die Erbkrankheit unsers Jahrhunderts zu sein
scheint, hätte er nicht das eitle Streben gehegt, aus seinen individuell sehr
interessanten Bildern ein Totalbild der menschlichen Gesellschaft zusammen¬
zusetzen, und hätte er nicht in der Weise Jean Pauls seinen Stil systematisch
corrumpirt, so würden wir ihm vielleicht classische Werke verdanken; und wäre
G. Sand nicht von dem Dämon der Philosophie besessen gewesen und hätte
sich durch ihn in das Gebiet der Reflexion verleiten lassen, wozu sie nur ein sehr
mäßiges Talent besitzt, so würde gleichfalls die Zahl ihrer vollendeten Schöpfungen
größer sein. Indessen diese Wünsche sind eitel, da bei der einen die Emanci¬
pation des Weibes, bei dem andern in, i'öcdöicdö 6«; l'absow das ursprüng¬
liche Motiv waren, und auch bei der beschränkten Anerkennung, die sie gegen¬
wärtig verdienen, stehen sie doch weit über allen ihren Mitbewerbern.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/378>, abgerufen am 21.06.2024.