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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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findet. Ehe wir den Versuch machen, uns wenigstens einigermaßen in diesem Ge¬
wirr zu orientiren, theilen wir einige Notizen aus dem vorliegenden Buch mit.

Balzac ging sehr selten ins Theater. In der Comödie franyais hat man
etwa dreimal in seinem Leben gesehen. Er war nicht im Stande, einem größern
Stück dauernd Aufmerksamkeit zu schenken, selbst wenn er sür den Dichter eine
besondere Vorliebe hegte. Als er -I8i0 sein erstes Drama: Vautrin, auf die
Bühne brachte, machteer zuerst die größten Anstalten, sich den Erfolg zusichern;
er setzte die größten Hoffnungen auf denselben und baute sich die fabelhaftesten
Lustschlösser. Das Stück fiel durch, wie kurz vorher V. Hugos BurggraveS
durchgefallen war; in beiden Fällen mit Recht. Aber Balzac ließ sich nicht
im geringsten dadurch stören. Sein Freund besuchte ihn Tags darauf in seinem
Landhaus, und schon hatte Balzac das Stück vollständig vergessen, schon war
er voll von neuen Projekten und Chimären; er wollte sich durch Verbesserung
der Gartencultur und dergleichen Millionen erwerben, und zwar in der aller-
kürzestenFrist. -- Der große Erfolg seiner Schriften geht zum Theil von den
Frauen aus, die ihm Dank wußten, daß er unter allen Dichtern zuerst die
Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden über alle Grenzen des Alters aus¬
gedehnt hatte. Bei den frühern Romanschreibern mußten die Heldinnen jung
sein; sür Balzac fängt das Leben der Frau eigentlich erst im dreißigsten Jahre
an. Nebenbei hat er am meisten den Heroismus und die Größe der weiblichen
Natur gefeiert, und er hat selbst aus den Fehlern derselben geheimnißvolle
Tugenden herauszuschälen gewußt. -- Sehr spaßhaft sind die Anekdoten über
seine.Methode zu bauen (z. B. in dem Landsitz les Jardieö), seine Zimmer mit dem
raffinirtesten weibischen Luxus anzufüllen, seine unregelmäßige und bizarre Lebens¬
weise, seine beständigen Nachtwachen, die Wuthausbrüche, ^die zuweilen mit
einer ganz wilden Energie erfolgten, um dann schnell vorüberzugehen, namentlich
aber über sein phantastisches Streben nach unermeßlichen Reichthümern. In
den monographischen Vorstudien zu seinen Werken ist vieles, was an Jean Paul
erinnert, wie denn auch in der That in der ^Komposition der beiden Dichter
sich eine große Aehnlichkeit findet. -- Wir lassen hiermit das Buch bei Seite,
um von unserm Standpunkt aus auf den Gegenstand einzugehen.

Von den Belletristen der neuesten romantischen Schule in Frankreich ver¬
dienen, wenn man von einigen sehr feinen, aber nicht grade wirkungsreichen
Talenten absieht (z. B. Morimve, Musset, Bernard, Angler :e.), die meiste
Aufmerksamkeit Balzac und G. Sand. Dem ersten Anschein nach sind sie sich
durchaus entgegengesetzt. G. Sand ist der leidenschaftlichste Idealist, den man
,sich vorstellen kann, das Gefühl, die Leidenschaft scheint alle Beobachtung der
Wirklichkeit zu verschlingen, während sich Balzac mit einem Eifer in die empi¬
rische Wirklichkeit vertieft, dem kein anderer Schriftsteller gleichkommt, selbst
Thackeray nicht. Indeß bei näherem Zusehen entdeckt man viele Aehnlichkeiten,


Grenzboten. II. -I8S6. ' 47

findet. Ehe wir den Versuch machen, uns wenigstens einigermaßen in diesem Ge¬
wirr zu orientiren, theilen wir einige Notizen aus dem vorliegenden Buch mit.

Balzac ging sehr selten ins Theater. In der Comödie franyais hat man
etwa dreimal in seinem Leben gesehen. Er war nicht im Stande, einem größern
Stück dauernd Aufmerksamkeit zu schenken, selbst wenn er sür den Dichter eine
besondere Vorliebe hegte. Als er -I8i0 sein erstes Drama: Vautrin, auf die
Bühne brachte, machteer zuerst die größten Anstalten, sich den Erfolg zusichern;
er setzte die größten Hoffnungen auf denselben und baute sich die fabelhaftesten
Lustschlösser. Das Stück fiel durch, wie kurz vorher V. Hugos BurggraveS
durchgefallen war; in beiden Fällen mit Recht. Aber Balzac ließ sich nicht
im geringsten dadurch stören. Sein Freund besuchte ihn Tags darauf in seinem
Landhaus, und schon hatte Balzac das Stück vollständig vergessen, schon war
er voll von neuen Projekten und Chimären; er wollte sich durch Verbesserung
der Gartencultur und dergleichen Millionen erwerben, und zwar in der aller-
kürzestenFrist. — Der große Erfolg seiner Schriften geht zum Theil von den
Frauen aus, die ihm Dank wußten, daß er unter allen Dichtern zuerst die
Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden über alle Grenzen des Alters aus¬
gedehnt hatte. Bei den frühern Romanschreibern mußten die Heldinnen jung
sein; sür Balzac fängt das Leben der Frau eigentlich erst im dreißigsten Jahre
an. Nebenbei hat er am meisten den Heroismus und die Größe der weiblichen
Natur gefeiert, und er hat selbst aus den Fehlern derselben geheimnißvolle
Tugenden herauszuschälen gewußt. — Sehr spaßhaft sind die Anekdoten über
seine.Methode zu bauen (z. B. in dem Landsitz les Jardieö), seine Zimmer mit dem
raffinirtesten weibischen Luxus anzufüllen, seine unregelmäßige und bizarre Lebens¬
weise, seine beständigen Nachtwachen, die Wuthausbrüche, ^die zuweilen mit
einer ganz wilden Energie erfolgten, um dann schnell vorüberzugehen, namentlich
aber über sein phantastisches Streben nach unermeßlichen Reichthümern. In
den monographischen Vorstudien zu seinen Werken ist vieles, was an Jean Paul
erinnert, wie denn auch in der That in der ^Komposition der beiden Dichter
sich eine große Aehnlichkeit findet. — Wir lassen hiermit das Buch bei Seite,
um von unserm Standpunkt aus auf den Gegenstand einzugehen.

Von den Belletristen der neuesten romantischen Schule in Frankreich ver¬
dienen, wenn man von einigen sehr feinen, aber nicht grade wirkungsreichen
Talenten absieht (z. B. Morimve, Musset, Bernard, Angler :e.), die meiste
Aufmerksamkeit Balzac und G. Sand. Dem ersten Anschein nach sind sie sich
durchaus entgegengesetzt. G. Sand ist der leidenschaftlichste Idealist, den man
,sich vorstellen kann, das Gefühl, die Leidenschaft scheint alle Beobachtung der
Wirklichkeit zu verschlingen, während sich Balzac mit einem Eifer in die empi¬
rische Wirklichkeit vertieft, dem kein anderer Schriftsteller gleichkommt, selbst
Thackeray nicht. Indeß bei näherem Zusehen entdeckt man viele Aehnlichkeiten,


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[0377] findet. Ehe wir den Versuch machen, uns wenigstens einigermaßen in diesem Ge¬ wirr zu orientiren, theilen wir einige Notizen aus dem vorliegenden Buch mit. Balzac ging sehr selten ins Theater. In der Comödie franyais hat man etwa dreimal in seinem Leben gesehen. Er war nicht im Stande, einem größern Stück dauernd Aufmerksamkeit zu schenken, selbst wenn er sür den Dichter eine besondere Vorliebe hegte. Als er -I8i0 sein erstes Drama: Vautrin, auf die Bühne brachte, machteer zuerst die größten Anstalten, sich den Erfolg zusichern; er setzte die größten Hoffnungen auf denselben und baute sich die fabelhaftesten Lustschlösser. Das Stück fiel durch, wie kurz vorher V. Hugos BurggraveS durchgefallen war; in beiden Fällen mit Recht. Aber Balzac ließ sich nicht im geringsten dadurch stören. Sein Freund besuchte ihn Tags darauf in seinem Landhaus, und schon hatte Balzac das Stück vollständig vergessen, schon war er voll von neuen Projekten und Chimären; er wollte sich durch Verbesserung der Gartencultur und dergleichen Millionen erwerben, und zwar in der aller- kürzestenFrist. — Der große Erfolg seiner Schriften geht zum Theil von den Frauen aus, die ihm Dank wußten, daß er unter allen Dichtern zuerst die Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden über alle Grenzen des Alters aus¬ gedehnt hatte. Bei den frühern Romanschreibern mußten die Heldinnen jung sein; sür Balzac fängt das Leben der Frau eigentlich erst im dreißigsten Jahre an. Nebenbei hat er am meisten den Heroismus und die Größe der weiblichen Natur gefeiert, und er hat selbst aus den Fehlern derselben geheimnißvolle Tugenden herauszuschälen gewußt. — Sehr spaßhaft sind die Anekdoten über seine.Methode zu bauen (z. B. in dem Landsitz les Jardieö), seine Zimmer mit dem raffinirtesten weibischen Luxus anzufüllen, seine unregelmäßige und bizarre Lebens¬ weise, seine beständigen Nachtwachen, die Wuthausbrüche, ^die zuweilen mit einer ganz wilden Energie erfolgten, um dann schnell vorüberzugehen, namentlich aber über sein phantastisches Streben nach unermeßlichen Reichthümern. In den monographischen Vorstudien zu seinen Werken ist vieles, was an Jean Paul erinnert, wie denn auch in der That in der ^Komposition der beiden Dichter sich eine große Aehnlichkeit findet. — Wir lassen hiermit das Buch bei Seite, um von unserm Standpunkt aus auf den Gegenstand einzugehen. Von den Belletristen der neuesten romantischen Schule in Frankreich ver¬ dienen, wenn man von einigen sehr feinen, aber nicht grade wirkungsreichen Talenten absieht (z. B. Morimve, Musset, Bernard, Angler :e.), die meiste Aufmerksamkeit Balzac und G. Sand. Dem ersten Anschein nach sind sie sich durchaus entgegengesetzt. G. Sand ist der leidenschaftlichste Idealist, den man ,sich vorstellen kann, das Gefühl, die Leidenschaft scheint alle Beobachtung der Wirklichkeit zu verschlingen, während sich Balzac mit einem Eifer in die empi¬ rische Wirklichkeit vertieft, dem kein anderer Schriftsteller gleichkommt, selbst Thackeray nicht. Indeß bei näherem Zusehen entdeckt man viele Aehnlichkeiten, Grenzboten. II. -I8S6. ' 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/377>, abgerufen am 21.06.2024.