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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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phischen Notizen sind nicht sehr ausführlich, aber es ist im Grunde davon so
viel gegeben, als der deutsche Leser brauchen kann. Es versteht sich von selbst,
daß bei dem vorwiegenden Bestreben, die Kenntniß des Materials zu vermehren,
das Urtheil in den Hintergrund tritt; wo sich aber der Verfasser auf Urtheile
einläßt, können wir ihm meistens beitreten. Herr Büchner geht von einem
richtigen poetischen Princip aus, und er ist unbefangen genug, in den Er¬
scheinungen auch dasjenige gelten zu lassen, was mit dem Princip nicht un¬
mittelbar zusammenhängt. -- Der Stil ist ziemlich nachlässig, und es hätte
der Wirkung des Buches nicht geschadet, wenn der Form mehr Recht wider¬
fahren wäre. -- Trotzdem ist es ein gutes und nützliches Buch und hat um
so größeres Recht zu einer Stellung in der Literatur, da seit Bouterweck für die
zusammenhängende Darstellung des Gegenstandes sehr wenig gethan ist. --
Bei der Gelegenheit machen wir auf einen Artikel in der brockhausschen Ge¬
genwart aufmerksam, welcher die neueste englische Literatur behandelt, im Ganzen
mit viel Einsicht und Sachkenntniß, wenn auch mit etwas zu großem Aufwand
an überflüssigem Witz. --


IZiüiiilL <in pimroullc-s par I^con Koülan. Kruxelles I^el^is, liiessling, 8ein<ze
et (!omp. --

Der Verfasser, ein langjähriger Freund des verstorbenen Dichters, erzählt
eine Menge interessanter und unterhaltender Details aus dem Leben und den
Gewohnheiten desselben. Einzelnes davon hat freilich nur für den Franzosen
Bedeutung, aber Balzac ist in der allgemeinen Literatur ein zu merkwürdiges
Phänomen, als daß wir nicht auch auf die Einzelnheiten seines Lebens unsre
Aufmerksamkeit richten sollten. Wenn wir uns von ihm ein Bild aus seinen
Schriften machen wollten, so erscheint er uns als ein hypochondrischer, bald
zur Schwärmerei, bald zur Blasirtheit geneigter Grübler, der jeder Lebens¬
beziehung so lange ernst und forschend ins Auge sieht, bis ihm vor dem scharfen
Sehen der Blick trübe wird, der so spitzfindig das Nervengeflecht auseinander¬
legt und zerschneidet, bis von dem Leben nur noch todte Atome übrig bleiben.
In der Wirklichkeit entsprach Balzac dieser Vorstellung keineswegs. Er war
ein jovialer, bis zur Frivolität leichtsinniger Wildfang, eine harmlose Natur,
die mit dem Leben spielte, ein hastiger und unruhiger Projectenmacher, der aber
selten im Stande war, bei irgend einem Entwurf längere Zeit stehen zu bleiben,
der, wenn ihm etwas fehlschlug, der erste war, darüber zu spotten; kurz im
vollsten Sinn Des Worts, was die Franzosen dem "zrMrit nennen. Wenn er
in seinen Romanen zuweilen das Leben mit einer Schärfe beobachtet, die uns
erschreckt, so hat er dagegen in der Wirklichkeit sich fortwährend täuschen lassen,
ohne über diese Illusionen irgend ein Mißbehagen zu empfinden; kurz eine
Sammlung der bizarrsten Widersprüche, für die man schwer einen Leitton


phischen Notizen sind nicht sehr ausführlich, aber es ist im Grunde davon so
viel gegeben, als der deutsche Leser brauchen kann. Es versteht sich von selbst,
daß bei dem vorwiegenden Bestreben, die Kenntniß des Materials zu vermehren,
das Urtheil in den Hintergrund tritt; wo sich aber der Verfasser auf Urtheile
einläßt, können wir ihm meistens beitreten. Herr Büchner geht von einem
richtigen poetischen Princip aus, und er ist unbefangen genug, in den Er¬
scheinungen auch dasjenige gelten zu lassen, was mit dem Princip nicht un¬
mittelbar zusammenhängt. — Der Stil ist ziemlich nachlässig, und es hätte
der Wirkung des Buches nicht geschadet, wenn der Form mehr Recht wider¬
fahren wäre. — Trotzdem ist es ein gutes und nützliches Buch und hat um
so größeres Recht zu einer Stellung in der Literatur, da seit Bouterweck für die
zusammenhängende Darstellung des Gegenstandes sehr wenig gethan ist. —
Bei der Gelegenheit machen wir auf einen Artikel in der brockhausschen Ge¬
genwart aufmerksam, welcher die neueste englische Literatur behandelt, im Ganzen
mit viel Einsicht und Sachkenntniß, wenn auch mit etwas zu großem Aufwand
an überflüssigem Witz. —


IZiüiiilL <in pimroullc-s par I^con Koülan. Kruxelles I^el^is, liiessling, 8ein<ze
et (!omp. —

Der Verfasser, ein langjähriger Freund des verstorbenen Dichters, erzählt
eine Menge interessanter und unterhaltender Details aus dem Leben und den
Gewohnheiten desselben. Einzelnes davon hat freilich nur für den Franzosen
Bedeutung, aber Balzac ist in der allgemeinen Literatur ein zu merkwürdiges
Phänomen, als daß wir nicht auch auf die Einzelnheiten seines Lebens unsre
Aufmerksamkeit richten sollten. Wenn wir uns von ihm ein Bild aus seinen
Schriften machen wollten, so erscheint er uns als ein hypochondrischer, bald
zur Schwärmerei, bald zur Blasirtheit geneigter Grübler, der jeder Lebens¬
beziehung so lange ernst und forschend ins Auge sieht, bis ihm vor dem scharfen
Sehen der Blick trübe wird, der so spitzfindig das Nervengeflecht auseinander¬
legt und zerschneidet, bis von dem Leben nur noch todte Atome übrig bleiben.
In der Wirklichkeit entsprach Balzac dieser Vorstellung keineswegs. Er war
ein jovialer, bis zur Frivolität leichtsinniger Wildfang, eine harmlose Natur,
die mit dem Leben spielte, ein hastiger und unruhiger Projectenmacher, der aber
selten im Stande war, bei irgend einem Entwurf längere Zeit stehen zu bleiben,
der, wenn ihm etwas fehlschlug, der erste war, darüber zu spotten; kurz im
vollsten Sinn Des Worts, was die Franzosen dem «zrMrit nennen. Wenn er
in seinen Romanen zuweilen das Leben mit einer Schärfe beobachtet, die uns
erschreckt, so hat er dagegen in der Wirklichkeit sich fortwährend täuschen lassen,
ohne über diese Illusionen irgend ein Mißbehagen zu empfinden; kurz eine
Sammlung der bizarrsten Widersprüche, für die man schwer einen Leitton


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[0376] phischen Notizen sind nicht sehr ausführlich, aber es ist im Grunde davon so viel gegeben, als der deutsche Leser brauchen kann. Es versteht sich von selbst, daß bei dem vorwiegenden Bestreben, die Kenntniß des Materials zu vermehren, das Urtheil in den Hintergrund tritt; wo sich aber der Verfasser auf Urtheile einläßt, können wir ihm meistens beitreten. Herr Büchner geht von einem richtigen poetischen Princip aus, und er ist unbefangen genug, in den Er¬ scheinungen auch dasjenige gelten zu lassen, was mit dem Princip nicht un¬ mittelbar zusammenhängt. — Der Stil ist ziemlich nachlässig, und es hätte der Wirkung des Buches nicht geschadet, wenn der Form mehr Recht wider¬ fahren wäre. — Trotzdem ist es ein gutes und nützliches Buch und hat um so größeres Recht zu einer Stellung in der Literatur, da seit Bouterweck für die zusammenhängende Darstellung des Gegenstandes sehr wenig gethan ist. — Bei der Gelegenheit machen wir auf einen Artikel in der brockhausschen Ge¬ genwart aufmerksam, welcher die neueste englische Literatur behandelt, im Ganzen mit viel Einsicht und Sachkenntniß, wenn auch mit etwas zu großem Aufwand an überflüssigem Witz. — IZiüiiilL <in pimroullc-s par I^con Koülan. Kruxelles I^el^is, liiessling, 8ein<ze et (!omp. — Der Verfasser, ein langjähriger Freund des verstorbenen Dichters, erzählt eine Menge interessanter und unterhaltender Details aus dem Leben und den Gewohnheiten desselben. Einzelnes davon hat freilich nur für den Franzosen Bedeutung, aber Balzac ist in der allgemeinen Literatur ein zu merkwürdiges Phänomen, als daß wir nicht auch auf die Einzelnheiten seines Lebens unsre Aufmerksamkeit richten sollten. Wenn wir uns von ihm ein Bild aus seinen Schriften machen wollten, so erscheint er uns als ein hypochondrischer, bald zur Schwärmerei, bald zur Blasirtheit geneigter Grübler, der jeder Lebens¬ beziehung so lange ernst und forschend ins Auge sieht, bis ihm vor dem scharfen Sehen der Blick trübe wird, der so spitzfindig das Nervengeflecht auseinander¬ legt und zerschneidet, bis von dem Leben nur noch todte Atome übrig bleiben. In der Wirklichkeit entsprach Balzac dieser Vorstellung keineswegs. Er war ein jovialer, bis zur Frivolität leichtsinniger Wildfang, eine harmlose Natur, die mit dem Leben spielte, ein hastiger und unruhiger Projectenmacher, der aber selten im Stande war, bei irgend einem Entwurf längere Zeit stehen zu bleiben, der, wenn ihm etwas fehlschlug, der erste war, darüber zu spotten; kurz im vollsten Sinn Des Worts, was die Franzosen dem «zrMrit nennen. Wenn er in seinen Romanen zuweilen das Leben mit einer Schärfe beobachtet, die uns erschreckt, so hat er dagegen in der Wirklichkeit sich fortwährend täuschen lassen, ohne über diese Illusionen irgend ein Mißbehagen zu empfinden; kurz eine Sammlung der bizarrsten Widersprüche, für die man schwer einen Leitton

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/376>, abgerufen am 21.06.2024.