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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Literatur mit Unbefangenheit und hinreichender Kenntniß betrachtet, ergeben
sich die Gedanken von selbst; aber es macht doch immerhin einen komischen
Eindruck, den man ja leicht vermeiden kann. Auch von jenem Haschen nach
Esprit, welches in der jungdeutschen Periode eine so schaudererregende Aus¬
dehnung gewann, ist er keineswegs ganz frei, und hier muß wiederum die Be¬
rechtigung nur in der Individualität gesucht werden. Wenn z. B. Heine mit
ungewöhnlichen Einfällen ungenirt um sich wirft,, so wird man zuweilen ge¬
ärgert, aber seine Wirkung macht es doch, denn Heine hat wirklich ungewöhn¬
liche Einfälle, Einfälle, die trotz ihrer bizarren Form häusig den Nagel auf
den Kopf treffen. Bei Hettner ist es aber blos Manier. Er hat eine lebhafte
Empfänglichkeit, ein schnell bewegliches, nicht immer sicheres Urtheil und die
Fähigkeit, die passenden Vergleichspunkte bei der Hand zu haben. Aus dieser
Anlage geht dann ein guter Schriftsteller hervor, wenn er eine sehr scharfe
Selbstkritik ausübt und die instinctive Thätigkeit seines Urtheils durch allseitige
Forschung und besonnene Ueberlegung corrigirt. Bis jetzt ist ihm das noch
nicht in dem wünschenswerthen Maß gelungen, er scheint noch nicht einmal
ernsthaft danach gestrebt zu haben.

Möge Herr Hettner in diesen Bemerkungen keine Ueberhebung sehen.
Wir wissen sehr gut, daß der deutsche Geschichtschreiber noch keinen aus¬
geschriebenen Stil, noch keine sichere Methode vorfindet, daß er die Weise, die
ihm angemessen ist, erst finden muß, und daß es ihm daher nahe liegt, diese
unvermeidliche subjective Thätigkeit vor dem Publicum zur Schau zu stellen;
allein man muß diese Neigung ernsthaft bekämpfen, denn je strenger man sich
an die Sache hält, je sicherer wird der Eindruck sein, den man macht, und wie
in allen Dingen, wird auch hier die einfachste Form die beste sein. --


Geschichte der englischen Poesie. Von der Mitte des vierzehnten bis zur
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Von Dr. Alexander Büchner.
Zwei Bände. Darmstadt, Dicht. --

Daß die Tendenz des Buchs von der deS vorigen wesentlich verschieden
ist, zeigt schon der Titel. Der Verfasser hat die Absicht, durch ausführliche
Angaben des Inhalts und durch Mittheilung zahlreicher Proben die Kenntniß
der englischen Literatur in Deutschland zu verbreiten. Was die letzteren be¬
trifft, so verfolgt er eine bedenkliche Methode: er gibt nämlich poetische Über¬
setzungen. So anerkennenswert!) in dieser Beziehung sein Talent ist, so leistet
es doch für den vorliegenden Fall nicht ganz das, was es leisten soll, und
wenn wir die Frage ganz bei Seite lassen, ob eine englische Literaturgeschichte
für denjenigen Leser, der des Englischen nicht mächtig ist, überhaupt einen Nutzen
haben kann, so wäre es auf alle Fälle zweckmäßiger gewesen, den englischen
Tert zu geben und eine prosaische Uebersetzung hinzuzufügen. -- Die biogra-


Literatur mit Unbefangenheit und hinreichender Kenntniß betrachtet, ergeben
sich die Gedanken von selbst; aber es macht doch immerhin einen komischen
Eindruck, den man ja leicht vermeiden kann. Auch von jenem Haschen nach
Esprit, welches in der jungdeutschen Periode eine so schaudererregende Aus¬
dehnung gewann, ist er keineswegs ganz frei, und hier muß wiederum die Be¬
rechtigung nur in der Individualität gesucht werden. Wenn z. B. Heine mit
ungewöhnlichen Einfällen ungenirt um sich wirft,, so wird man zuweilen ge¬
ärgert, aber seine Wirkung macht es doch, denn Heine hat wirklich ungewöhn¬
liche Einfälle, Einfälle, die trotz ihrer bizarren Form häusig den Nagel auf
den Kopf treffen. Bei Hettner ist es aber blos Manier. Er hat eine lebhafte
Empfänglichkeit, ein schnell bewegliches, nicht immer sicheres Urtheil und die
Fähigkeit, die passenden Vergleichspunkte bei der Hand zu haben. Aus dieser
Anlage geht dann ein guter Schriftsteller hervor, wenn er eine sehr scharfe
Selbstkritik ausübt und die instinctive Thätigkeit seines Urtheils durch allseitige
Forschung und besonnene Ueberlegung corrigirt. Bis jetzt ist ihm das noch
nicht in dem wünschenswerthen Maß gelungen, er scheint noch nicht einmal
ernsthaft danach gestrebt zu haben.

Möge Herr Hettner in diesen Bemerkungen keine Ueberhebung sehen.
Wir wissen sehr gut, daß der deutsche Geschichtschreiber noch keinen aus¬
geschriebenen Stil, noch keine sichere Methode vorfindet, daß er die Weise, die
ihm angemessen ist, erst finden muß, und daß es ihm daher nahe liegt, diese
unvermeidliche subjective Thätigkeit vor dem Publicum zur Schau zu stellen;
allein man muß diese Neigung ernsthaft bekämpfen, denn je strenger man sich
an die Sache hält, je sicherer wird der Eindruck sein, den man macht, und wie
in allen Dingen, wird auch hier die einfachste Form die beste sein. —


Geschichte der englischen Poesie. Von der Mitte des vierzehnten bis zur
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Von Dr. Alexander Büchner.
Zwei Bände. Darmstadt, Dicht. —

Daß die Tendenz des Buchs von der deS vorigen wesentlich verschieden
ist, zeigt schon der Titel. Der Verfasser hat die Absicht, durch ausführliche
Angaben des Inhalts und durch Mittheilung zahlreicher Proben die Kenntniß
der englischen Literatur in Deutschland zu verbreiten. Was die letzteren be¬
trifft, so verfolgt er eine bedenkliche Methode: er gibt nämlich poetische Über¬
setzungen. So anerkennenswert!) in dieser Beziehung sein Talent ist, so leistet
es doch für den vorliegenden Fall nicht ganz das, was es leisten soll, und
wenn wir die Frage ganz bei Seite lassen, ob eine englische Literaturgeschichte
für denjenigen Leser, der des Englischen nicht mächtig ist, überhaupt einen Nutzen
haben kann, so wäre es auf alle Fälle zweckmäßiger gewesen, den englischen
Tert zu geben und eine prosaische Uebersetzung hinzuzufügen. — Die biogra-


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[0375] Literatur mit Unbefangenheit und hinreichender Kenntniß betrachtet, ergeben sich die Gedanken von selbst; aber es macht doch immerhin einen komischen Eindruck, den man ja leicht vermeiden kann. Auch von jenem Haschen nach Esprit, welches in der jungdeutschen Periode eine so schaudererregende Aus¬ dehnung gewann, ist er keineswegs ganz frei, und hier muß wiederum die Be¬ rechtigung nur in der Individualität gesucht werden. Wenn z. B. Heine mit ungewöhnlichen Einfällen ungenirt um sich wirft,, so wird man zuweilen ge¬ ärgert, aber seine Wirkung macht es doch, denn Heine hat wirklich ungewöhn¬ liche Einfälle, Einfälle, die trotz ihrer bizarren Form häusig den Nagel auf den Kopf treffen. Bei Hettner ist es aber blos Manier. Er hat eine lebhafte Empfänglichkeit, ein schnell bewegliches, nicht immer sicheres Urtheil und die Fähigkeit, die passenden Vergleichspunkte bei der Hand zu haben. Aus dieser Anlage geht dann ein guter Schriftsteller hervor, wenn er eine sehr scharfe Selbstkritik ausübt und die instinctive Thätigkeit seines Urtheils durch allseitige Forschung und besonnene Ueberlegung corrigirt. Bis jetzt ist ihm das noch nicht in dem wünschenswerthen Maß gelungen, er scheint noch nicht einmal ernsthaft danach gestrebt zu haben. Möge Herr Hettner in diesen Bemerkungen keine Ueberhebung sehen. Wir wissen sehr gut, daß der deutsche Geschichtschreiber noch keinen aus¬ geschriebenen Stil, noch keine sichere Methode vorfindet, daß er die Weise, die ihm angemessen ist, erst finden muß, und daß es ihm daher nahe liegt, diese unvermeidliche subjective Thätigkeit vor dem Publicum zur Schau zu stellen; allein man muß diese Neigung ernsthaft bekämpfen, denn je strenger man sich an die Sache hält, je sicherer wird der Eindruck sein, den man macht, und wie in allen Dingen, wird auch hier die einfachste Form die beste sein. — Geschichte der englischen Poesie. Von der Mitte des vierzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Von Dr. Alexander Büchner. Zwei Bände. Darmstadt, Dicht. — Daß die Tendenz des Buchs von der deS vorigen wesentlich verschieden ist, zeigt schon der Titel. Der Verfasser hat die Absicht, durch ausführliche Angaben des Inhalts und durch Mittheilung zahlreicher Proben die Kenntniß der englischen Literatur in Deutschland zu verbreiten. Was die letzteren be¬ trifft, so verfolgt er eine bedenkliche Methode: er gibt nämlich poetische Über¬ setzungen. So anerkennenswert!) in dieser Beziehung sein Talent ist, so leistet es doch für den vorliegenden Fall nicht ganz das, was es leisten soll, und wenn wir die Frage ganz bei Seite lassen, ob eine englische Literaturgeschichte für denjenigen Leser, der des Englischen nicht mächtig ist, überhaupt einen Nutzen haben kann, so wäre es auf alle Fälle zweckmäßiger gewesen, den englischen Tert zu geben und eine prosaische Uebersetzung hinzuzufügen. — Die biogra-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/375>, abgerufen am 21.06.2024.