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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Herr Hettner verzichtet von vornherein auf eine gelehrte Arbeit im strengern
Sinne des Worts. Wenn er seine Anschauungen aus den Quellen schöpft,
so kommt es ihm doch nicht darauf an, das Material vollständig gesammelt
und kritisch gesichtet zu überliefern; er begnügt sich bei den Thatsachen mit den
bekannten Monographien, an welchen die englische Literatur überreich ist, wäh¬
rend sie sich an das Unternehmen einer zusammenhangenden Darstellung noch
gar nicht gewagt hat. Es kommt ihm darauf an, an den hervorragenden Er¬
scheinungen der Literatur den Gang der allgemeinen Culturentwicklung nach¬
zuweisen. Wir würden bei der Auswahl manches anders wünschen; das Urtheil
würden wir zuweilen modificiren, namentlich in den Fällen, wo Hettner zu lebhaft
einer bestimmten Idee nachgeht, dabei die andern Seiten des Gegenstandes
übersieht und dieses später dann durch eine entgegengesetzte Einseitigkeit wieder
gut zu machen sucht, wo er sich also widerspricht. Indeß wir halten es für
unnütz, darauf näher einzugehen, da jeder kritische Leser in irgend einem Punkt
besser unterrichtet sein wird, als der Schriftsteller, der allen Formen der Cultur
gerecht werden will und sich daher bei manchen Punkten auf Hörensagen ver¬
lassen muß. In Beziehung auf das Thatsächliche behalten wir uns vor, zum
beliebigen Gebrauch ein Verzeichnis) der Errata mitzutheilen; dagegen müssen
wir auf zwei Fehler aufmerksam machen, von denen wir ernstlich wünschen, daß
sie der Verfasser bei den beiden folgenden Bänden vermeiden möge.

Der erste ist die novellistische Form, die bei der Vorlesung wol wesentlich
dazu beitragen mag, die Lebhaftigkeit und das Interesse des Vertrags zu er¬
höhen, die aber in dem Buch keinen angenehmen Eindruck macht. Wahr¬
scheinlich ist hier unbewußt der Einfluß Rankes maßgebend gewesen. Bei diesem
feingebildeten, geistvollen Mann, der aber selten die Ruhe und Stetigkeit hat,
zusammenhängend zu erzählen, machen diese anmuthigen Sprünge der Dar¬
stellung zuweilen einen ganz bezaubernden Eindruck, aber sie haben nur eine
individuelle Berechtigung, als Muster zur Nachahmung sind sie in keiner Weise
zu empfehlen, und der rankesche Stil in der Geschichtschreibung ist der letzte,
dessen Verallgemeinerung wir wünschen könnten; am wenigsten paßt er für das
Gebiet der Literaturgeschichte.

Ein zweiter Fehler hängt damit zusammen, aber er gehört Hettner eigen¬
thümlich an. Bei seinem lebhaften Temperament und seinem warmen Interesse
für die Stoffe begegnet es ihm häufig, daß er an seinen eignen Gedanken ein
größeres Behagen findet, als ihm selbst bei reiferer Ueberlegung angemessen er¬
scheinen würde. Wir haben ihn schon früher bei seinen journalistischen Arbeiten
aufmerksam beobachtet und mit einiger Verwunderung gesehen, wie er dann am
meisten über seinen Gedanken erstaunt, wenn derselbe Gedanke etwa acht oder
vierzehn Tage vorher anderweit bereits ausführlich auseinandergesetzt war. ES
liegt nun darin durchaus kein Plagiat, denn sür denjenigen, welcher die


Herr Hettner verzichtet von vornherein auf eine gelehrte Arbeit im strengern
Sinne des Worts. Wenn er seine Anschauungen aus den Quellen schöpft,
so kommt es ihm doch nicht darauf an, das Material vollständig gesammelt
und kritisch gesichtet zu überliefern; er begnügt sich bei den Thatsachen mit den
bekannten Monographien, an welchen die englische Literatur überreich ist, wäh¬
rend sie sich an das Unternehmen einer zusammenhangenden Darstellung noch
gar nicht gewagt hat. Es kommt ihm darauf an, an den hervorragenden Er¬
scheinungen der Literatur den Gang der allgemeinen Culturentwicklung nach¬
zuweisen. Wir würden bei der Auswahl manches anders wünschen; das Urtheil
würden wir zuweilen modificiren, namentlich in den Fällen, wo Hettner zu lebhaft
einer bestimmten Idee nachgeht, dabei die andern Seiten des Gegenstandes
übersieht und dieses später dann durch eine entgegengesetzte Einseitigkeit wieder
gut zu machen sucht, wo er sich also widerspricht. Indeß wir halten es für
unnütz, darauf näher einzugehen, da jeder kritische Leser in irgend einem Punkt
besser unterrichtet sein wird, als der Schriftsteller, der allen Formen der Cultur
gerecht werden will und sich daher bei manchen Punkten auf Hörensagen ver¬
lassen muß. In Beziehung auf das Thatsächliche behalten wir uns vor, zum
beliebigen Gebrauch ein Verzeichnis) der Errata mitzutheilen; dagegen müssen
wir auf zwei Fehler aufmerksam machen, von denen wir ernstlich wünschen, daß
sie der Verfasser bei den beiden folgenden Bänden vermeiden möge.

Der erste ist die novellistische Form, die bei der Vorlesung wol wesentlich
dazu beitragen mag, die Lebhaftigkeit und das Interesse des Vertrags zu er¬
höhen, die aber in dem Buch keinen angenehmen Eindruck macht. Wahr¬
scheinlich ist hier unbewußt der Einfluß Rankes maßgebend gewesen. Bei diesem
feingebildeten, geistvollen Mann, der aber selten die Ruhe und Stetigkeit hat,
zusammenhängend zu erzählen, machen diese anmuthigen Sprünge der Dar¬
stellung zuweilen einen ganz bezaubernden Eindruck, aber sie haben nur eine
individuelle Berechtigung, als Muster zur Nachahmung sind sie in keiner Weise
zu empfehlen, und der rankesche Stil in der Geschichtschreibung ist der letzte,
dessen Verallgemeinerung wir wünschen könnten; am wenigsten paßt er für das
Gebiet der Literaturgeschichte.

Ein zweiter Fehler hängt damit zusammen, aber er gehört Hettner eigen¬
thümlich an. Bei seinem lebhaften Temperament und seinem warmen Interesse
für die Stoffe begegnet es ihm häufig, daß er an seinen eignen Gedanken ein
größeres Behagen findet, als ihm selbst bei reiferer Ueberlegung angemessen er¬
scheinen würde. Wir haben ihn schon früher bei seinen journalistischen Arbeiten
aufmerksam beobachtet und mit einiger Verwunderung gesehen, wie er dann am
meisten über seinen Gedanken erstaunt, wenn derselbe Gedanke etwa acht oder
vierzehn Tage vorher anderweit bereits ausführlich auseinandergesetzt war. ES
liegt nun darin durchaus kein Plagiat, denn sür denjenigen, welcher die


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[0374] Herr Hettner verzichtet von vornherein auf eine gelehrte Arbeit im strengern Sinne des Worts. Wenn er seine Anschauungen aus den Quellen schöpft, so kommt es ihm doch nicht darauf an, das Material vollständig gesammelt und kritisch gesichtet zu überliefern; er begnügt sich bei den Thatsachen mit den bekannten Monographien, an welchen die englische Literatur überreich ist, wäh¬ rend sie sich an das Unternehmen einer zusammenhangenden Darstellung noch gar nicht gewagt hat. Es kommt ihm darauf an, an den hervorragenden Er¬ scheinungen der Literatur den Gang der allgemeinen Culturentwicklung nach¬ zuweisen. Wir würden bei der Auswahl manches anders wünschen; das Urtheil würden wir zuweilen modificiren, namentlich in den Fällen, wo Hettner zu lebhaft einer bestimmten Idee nachgeht, dabei die andern Seiten des Gegenstandes übersieht und dieses später dann durch eine entgegengesetzte Einseitigkeit wieder gut zu machen sucht, wo er sich also widerspricht. Indeß wir halten es für unnütz, darauf näher einzugehen, da jeder kritische Leser in irgend einem Punkt besser unterrichtet sein wird, als der Schriftsteller, der allen Formen der Cultur gerecht werden will und sich daher bei manchen Punkten auf Hörensagen ver¬ lassen muß. In Beziehung auf das Thatsächliche behalten wir uns vor, zum beliebigen Gebrauch ein Verzeichnis) der Errata mitzutheilen; dagegen müssen wir auf zwei Fehler aufmerksam machen, von denen wir ernstlich wünschen, daß sie der Verfasser bei den beiden folgenden Bänden vermeiden möge. Der erste ist die novellistische Form, die bei der Vorlesung wol wesentlich dazu beitragen mag, die Lebhaftigkeit und das Interesse des Vertrags zu er¬ höhen, die aber in dem Buch keinen angenehmen Eindruck macht. Wahr¬ scheinlich ist hier unbewußt der Einfluß Rankes maßgebend gewesen. Bei diesem feingebildeten, geistvollen Mann, der aber selten die Ruhe und Stetigkeit hat, zusammenhängend zu erzählen, machen diese anmuthigen Sprünge der Dar¬ stellung zuweilen einen ganz bezaubernden Eindruck, aber sie haben nur eine individuelle Berechtigung, als Muster zur Nachahmung sind sie in keiner Weise zu empfehlen, und der rankesche Stil in der Geschichtschreibung ist der letzte, dessen Verallgemeinerung wir wünschen könnten; am wenigsten paßt er für das Gebiet der Literaturgeschichte. Ein zweiter Fehler hängt damit zusammen, aber er gehört Hettner eigen¬ thümlich an. Bei seinem lebhaften Temperament und seinem warmen Interesse für die Stoffe begegnet es ihm häufig, daß er an seinen eignen Gedanken ein größeres Behagen findet, als ihm selbst bei reiferer Ueberlegung angemessen er¬ scheinen würde. Wir haben ihn schon früher bei seinen journalistischen Arbeiten aufmerksam beobachtet und mit einiger Verwunderung gesehen, wie er dann am meisten über seinen Gedanken erstaunt, wenn derselbe Gedanke etwa acht oder vierzehn Tage vorher anderweit bereits ausführlich auseinandergesetzt war. ES liegt nun darin durchaus kein Plagiat, denn sür denjenigen, welcher die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/374>, abgerufen am 21.06.2024.