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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Physiognomie deS Marquis Posa in'ß sich unter den neuen Masken wol wie¬
der herauserkennen. Da kam die Stunde der Entscheidung, die Werther, die
Faust, die Karl Moor und Ardinghello tagten über den Geschicken einer großen
Nation, der philanthropische Robespierre mußte, um die'Todesstrafe abschaffen
zu können, vorher mit einer Virtuosität ohne Beispiel die Guillotine spielen
lassen, und die Bildung sah zu ihrem Schrecken, daß der Glaube, den sie ge¬
predigt, wieder in die Hände des Volks übergegangen war. Es waren die
Erben der religiösen Fanatiker von 1ö72 und 1648, die sich aufs neue in dem
Blut der Aristokraten berauschten, freilich dies Mal aus andern Gründen. Die
erschrockene Bildung bekehrte sich wieder, verleugnete ihren bisherigen Glauben
und kehrte zu den Idealen der Vorzeit zurück. Burke, Chateaubriand, Schle¬
gel u. s. w. wurden die Verkündiger der Romantik, aber ihr vereinzelter Kampf
hätte keine Wirkung gehabt, wenn nicht durch das napoleonische Weltreich
auch die Völker wären erregt worden, wenn nicht der Glaube an Gott und
eine bessere Zukunft, über den der Verstand bis dahin gespottet, sich als ein
allgemeines Bedürfniß des Herzens herausgestellt hätte. Daß nun in diesem
Zeitalter der Bekehrungen die Periode der Aufklärung mit scheelen Augen an¬
gesehen wurde, liegt in dem natürlichen Gegensatz; daß man jetzt aber allseitig
wieder anfängt, ihr gerecht zu werden, deutet bereits aus den Beginn einer
neuen Periode hin.

Von dieser Wendung legt auch das vorliegende Buch ein günstiges Zeug¬
niß ab. Der Verfasser schildert das so vielfach angefochtene Zeitalter der Auf¬
klärung, welches er ganz richtig mit der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt,
als entschiedener Apologet, aber freilich von einem freieren und höheren Stand-
Punkte aus, als derjenige war, den man inmitten der Bewegung einnehmen
konnte. Er verkennt nicht die bedenklichen Erscheinungen, welche das Heraus¬
treten des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit begleiten (diese
schöne Definition des alten Kant bleibt noch immer die zweckmäßigste); aber er
findet dessenungeachtet einen innern, logischen Zusammenhang, wo man sonst nur
Willkür und Leidenschaft gesucht hatte. Mit dem Plan des Buchs erklären wir
uns vollkommen einverstanden.

Was nun die Ausführung betrifft, so machen wir auf dasjenige aufmerksam,
was wir in einem frühern literarhistorischen Artikel bemerkt haben. Man
muß an ein literarhistorisches Werk nicht die Ansprüche stellen, die man an
ein geschichtliches zu stellen berechtigt ist. Der Historiker kann für die Ewigkeit
arbeiten, weil er seinen Gegenstand vollständig darstellen kann; der Literar¬
historiker muß sich ein bescheideneres Ziel stecken, er muß zunächst an seine
eigne Zeit denken. Wenn sein geistiger Inhalt so bedeutend und seine künst¬
lerische Form so vollendet ist, daß auch die Nachwelt sich daran erfreut und
daraus belehrt, so ist das gut, aber er kann sich dieses Ziel nicht vorstecken. --


Physiognomie deS Marquis Posa in'ß sich unter den neuen Masken wol wie¬
der herauserkennen. Da kam die Stunde der Entscheidung, die Werther, die
Faust, die Karl Moor und Ardinghello tagten über den Geschicken einer großen
Nation, der philanthropische Robespierre mußte, um die'Todesstrafe abschaffen
zu können, vorher mit einer Virtuosität ohne Beispiel die Guillotine spielen
lassen, und die Bildung sah zu ihrem Schrecken, daß der Glaube, den sie ge¬
predigt, wieder in die Hände des Volks übergegangen war. Es waren die
Erben der religiösen Fanatiker von 1ö72 und 1648, die sich aufs neue in dem
Blut der Aristokraten berauschten, freilich dies Mal aus andern Gründen. Die
erschrockene Bildung bekehrte sich wieder, verleugnete ihren bisherigen Glauben
und kehrte zu den Idealen der Vorzeit zurück. Burke, Chateaubriand, Schle¬
gel u. s. w. wurden die Verkündiger der Romantik, aber ihr vereinzelter Kampf
hätte keine Wirkung gehabt, wenn nicht durch das napoleonische Weltreich
auch die Völker wären erregt worden, wenn nicht der Glaube an Gott und
eine bessere Zukunft, über den der Verstand bis dahin gespottet, sich als ein
allgemeines Bedürfniß des Herzens herausgestellt hätte. Daß nun in diesem
Zeitalter der Bekehrungen die Periode der Aufklärung mit scheelen Augen an¬
gesehen wurde, liegt in dem natürlichen Gegensatz; daß man jetzt aber allseitig
wieder anfängt, ihr gerecht zu werden, deutet bereits aus den Beginn einer
neuen Periode hin.

Von dieser Wendung legt auch das vorliegende Buch ein günstiges Zeug¬
niß ab. Der Verfasser schildert das so vielfach angefochtene Zeitalter der Auf¬
klärung, welches er ganz richtig mit der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt,
als entschiedener Apologet, aber freilich von einem freieren und höheren Stand-
Punkte aus, als derjenige war, den man inmitten der Bewegung einnehmen
konnte. Er verkennt nicht die bedenklichen Erscheinungen, welche das Heraus¬
treten des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit begleiten (diese
schöne Definition des alten Kant bleibt noch immer die zweckmäßigste); aber er
findet dessenungeachtet einen innern, logischen Zusammenhang, wo man sonst nur
Willkür und Leidenschaft gesucht hatte. Mit dem Plan des Buchs erklären wir
uns vollkommen einverstanden.

Was nun die Ausführung betrifft, so machen wir auf dasjenige aufmerksam,
was wir in einem frühern literarhistorischen Artikel bemerkt haben. Man
muß an ein literarhistorisches Werk nicht die Ansprüche stellen, die man an
ein geschichtliches zu stellen berechtigt ist. Der Historiker kann für die Ewigkeit
arbeiten, weil er seinen Gegenstand vollständig darstellen kann; der Literar¬
historiker muß sich ein bescheideneres Ziel stecken, er muß zunächst an seine
eigne Zeit denken. Wenn sein geistiger Inhalt so bedeutend und seine künst¬
lerische Form so vollendet ist, daß auch die Nachwelt sich daran erfreut und
daraus belehrt, so ist das gut, aber er kann sich dieses Ziel nicht vorstecken. —


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[0373] Physiognomie deS Marquis Posa in'ß sich unter den neuen Masken wol wie¬ der herauserkennen. Da kam die Stunde der Entscheidung, die Werther, die Faust, die Karl Moor und Ardinghello tagten über den Geschicken einer großen Nation, der philanthropische Robespierre mußte, um die'Todesstrafe abschaffen zu können, vorher mit einer Virtuosität ohne Beispiel die Guillotine spielen lassen, und die Bildung sah zu ihrem Schrecken, daß der Glaube, den sie ge¬ predigt, wieder in die Hände des Volks übergegangen war. Es waren die Erben der religiösen Fanatiker von 1ö72 und 1648, die sich aufs neue in dem Blut der Aristokraten berauschten, freilich dies Mal aus andern Gründen. Die erschrockene Bildung bekehrte sich wieder, verleugnete ihren bisherigen Glauben und kehrte zu den Idealen der Vorzeit zurück. Burke, Chateaubriand, Schle¬ gel u. s. w. wurden die Verkündiger der Romantik, aber ihr vereinzelter Kampf hätte keine Wirkung gehabt, wenn nicht durch das napoleonische Weltreich auch die Völker wären erregt worden, wenn nicht der Glaube an Gott und eine bessere Zukunft, über den der Verstand bis dahin gespottet, sich als ein allgemeines Bedürfniß des Herzens herausgestellt hätte. Daß nun in diesem Zeitalter der Bekehrungen die Periode der Aufklärung mit scheelen Augen an¬ gesehen wurde, liegt in dem natürlichen Gegensatz; daß man jetzt aber allseitig wieder anfängt, ihr gerecht zu werden, deutet bereits aus den Beginn einer neuen Periode hin. Von dieser Wendung legt auch das vorliegende Buch ein günstiges Zeug¬ niß ab. Der Verfasser schildert das so vielfach angefochtene Zeitalter der Auf¬ klärung, welches er ganz richtig mit der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt, als entschiedener Apologet, aber freilich von einem freieren und höheren Stand- Punkte aus, als derjenige war, den man inmitten der Bewegung einnehmen konnte. Er verkennt nicht die bedenklichen Erscheinungen, welche das Heraus¬ treten des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit begleiten (diese schöne Definition des alten Kant bleibt noch immer die zweckmäßigste); aber er findet dessenungeachtet einen innern, logischen Zusammenhang, wo man sonst nur Willkür und Leidenschaft gesucht hatte. Mit dem Plan des Buchs erklären wir uns vollkommen einverstanden. Was nun die Ausführung betrifft, so machen wir auf dasjenige aufmerksam, was wir in einem frühern literarhistorischen Artikel bemerkt haben. Man muß an ein literarhistorisches Werk nicht die Ansprüche stellen, die man an ein geschichtliches zu stellen berechtigt ist. Der Historiker kann für die Ewigkeit arbeiten, weil er seinen Gegenstand vollständig darstellen kann; der Literar¬ historiker muß sich ein bescheideneres Ziel stecken, er muß zunächst an seine eigne Zeit denken. Wenn sein geistiger Inhalt so bedeutend und seine künst¬ lerische Form so vollendet ist, daß auch die Nachwelt sich daran erfreut und daraus belehrt, so ist das gut, aber er kann sich dieses Ziel nicht vorstecken. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/373>, abgerufen am 21.06.2024.