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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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nicht immer das Gepräge ihres Ursprungs und man sah es z. B. der nieder-
ländischen Republik nicht mehr an, daß sie von den Bilderstürmern ausgegan¬
gen war.

Auch dies Mal war eine Reaction vorhanden, aber sie lag nicht in dem
Volk, sondern in den Hosen. Das weltliche Wesen hatte auch in der theo¬
logischen Verpuppung im Stillen fortgewirkt. Die Fürsten hatten auf den
Trümmern der säcularisirten Kirchengüter ihre Souveränetät aufgerichtet, der
Orden der Jesuiten wurde eine Handelscompcignie, die Erben Cromwells grün¬
deten die parlamentarische Regierung, Wallensteins Hofastrologen stellten die
Gesetze der himmlischen Mechanik fest, Papst Gregor ließ den Kalender ver¬
bessern, und während das protestantische Leben im Pietismus versumpfte,
wandten sich die Wissenschaft und Kunst wieder den classischen Vorbildern zu.

Die Revolution erfolgte dies Mal nicht am Anfang, sondern am Schluß der
Periode. Der Uebergang aus dem kirchlichen Zeitalter in das Zeitalter der Auflä-
rung ist unmerklich. Boileau und Molisre verherrlichten neben Racine und Bossuet
den Hof Ludwigs XlV., und das untergehende Gestirn der Maintenon sah noch
die ausgehende Sonne Voltaires. Das Volk hatte mit seinem Glauben so
lange geherrscht, bis dem Glauben die Lebenskraft ausgegangen war. Sofort
drängten sich die Gelehrten, die Aristokraten, die Gebildeten wieder auf den
Thron der öffentlichen Cultur. Die Naturwissenschaft und Naturphilosophie
war ununterbrochen fortgegangen, aber sie hatte schweigen müssen; jetzt
drängte sie sich mit lautem Geschrei auf den Markt. Die Bildung hatte
nun einen bestimmten Feind, oder wie man es jetzt nannte, den Aberglauben.
Wenig dachten die Höfe und ihre Freunde daran, als sie sich am Candide und ,
an der Pucelle erfreuten, als sie selbst das "Möwe cle la nawrs in Schutz
nahmen, daß sie damit der Demokratie in die Hände arbeiteten. Die Fürsten
und die Vornehmen freuten sich, daß öffentlich verhöhnt wurde, was ihnen im
Innern längst verächtlich geworden war. Die Kirche trat, wie in den Zeiten
deS alten Humanismus, ganz aus der Bildung heraus und lebte in finsterm
Groll in den Hütten der ländlichen Kirchspiele. Ganz Europa hatte wieder
eine gemeinsame Bildung, ja einen gemeinsamen Glauben, denn der Haß zeigte
dies Mal eine productive Kraft. Wenn auch Voltaire .und Rousseau, wenn auch
die französischen Encyklopädisten und die deutschen Kritiker, wenn auch die
Akademie und Goethe in vielen einzelnen Punkten voneinander abwichen, im
Grunde strebten sie demselben Ziele zu. Es war die lange unterdrückte Leiden¬
schaft der Natur, es war der wilde Idealismus des Herzens, der seine Fesseln
von sich warf. Zwar legte die deutsche Dichtung am Hof von Weimar wieder
em akademisches Gewand an, aber damit konnte sie es nicht ungeschehen machen,
daß sie einen Werther und Faust, einen Karl Moor und Ardinghello hervor¬
gebracht; das griechische Heidenthum ließ sich nicht mehr ersticken und auch die


nicht immer das Gepräge ihres Ursprungs und man sah es z. B. der nieder-
ländischen Republik nicht mehr an, daß sie von den Bilderstürmern ausgegan¬
gen war.

Auch dies Mal war eine Reaction vorhanden, aber sie lag nicht in dem
Volk, sondern in den Hosen. Das weltliche Wesen hatte auch in der theo¬
logischen Verpuppung im Stillen fortgewirkt. Die Fürsten hatten auf den
Trümmern der säcularisirten Kirchengüter ihre Souveränetät aufgerichtet, der
Orden der Jesuiten wurde eine Handelscompcignie, die Erben Cromwells grün¬
deten die parlamentarische Regierung, Wallensteins Hofastrologen stellten die
Gesetze der himmlischen Mechanik fest, Papst Gregor ließ den Kalender ver¬
bessern, und während das protestantische Leben im Pietismus versumpfte,
wandten sich die Wissenschaft und Kunst wieder den classischen Vorbildern zu.

Die Revolution erfolgte dies Mal nicht am Anfang, sondern am Schluß der
Periode. Der Uebergang aus dem kirchlichen Zeitalter in das Zeitalter der Auflä-
rung ist unmerklich. Boileau und Molisre verherrlichten neben Racine und Bossuet
den Hof Ludwigs XlV., und das untergehende Gestirn der Maintenon sah noch
die ausgehende Sonne Voltaires. Das Volk hatte mit seinem Glauben so
lange geherrscht, bis dem Glauben die Lebenskraft ausgegangen war. Sofort
drängten sich die Gelehrten, die Aristokraten, die Gebildeten wieder auf den
Thron der öffentlichen Cultur. Die Naturwissenschaft und Naturphilosophie
war ununterbrochen fortgegangen, aber sie hatte schweigen müssen; jetzt
drängte sie sich mit lautem Geschrei auf den Markt. Die Bildung hatte
nun einen bestimmten Feind, oder wie man es jetzt nannte, den Aberglauben.
Wenig dachten die Höfe und ihre Freunde daran, als sie sich am Candide und ,
an der Pucelle erfreuten, als sie selbst das «Möwe cle la nawrs in Schutz
nahmen, daß sie damit der Demokratie in die Hände arbeiteten. Die Fürsten
und die Vornehmen freuten sich, daß öffentlich verhöhnt wurde, was ihnen im
Innern längst verächtlich geworden war. Die Kirche trat, wie in den Zeiten
deS alten Humanismus, ganz aus der Bildung heraus und lebte in finsterm
Groll in den Hütten der ländlichen Kirchspiele. Ganz Europa hatte wieder
eine gemeinsame Bildung, ja einen gemeinsamen Glauben, denn der Haß zeigte
dies Mal eine productive Kraft. Wenn auch Voltaire .und Rousseau, wenn auch
die französischen Encyklopädisten und die deutschen Kritiker, wenn auch die
Akademie und Goethe in vielen einzelnen Punkten voneinander abwichen, im
Grunde strebten sie demselben Ziele zu. Es war die lange unterdrückte Leiden¬
schaft der Natur, es war der wilde Idealismus des Herzens, der seine Fesseln
von sich warf. Zwar legte die deutsche Dichtung am Hof von Weimar wieder
em akademisches Gewand an, aber damit konnte sie es nicht ungeschehen machen,
daß sie einen Werther und Faust, einen Karl Moor und Ardinghello hervor¬
gebracht; das griechische Heidenthum ließ sich nicht mehr ersticken und auch die


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[0372] nicht immer das Gepräge ihres Ursprungs und man sah es z. B. der nieder- ländischen Republik nicht mehr an, daß sie von den Bilderstürmern ausgegan¬ gen war. Auch dies Mal war eine Reaction vorhanden, aber sie lag nicht in dem Volk, sondern in den Hosen. Das weltliche Wesen hatte auch in der theo¬ logischen Verpuppung im Stillen fortgewirkt. Die Fürsten hatten auf den Trümmern der säcularisirten Kirchengüter ihre Souveränetät aufgerichtet, der Orden der Jesuiten wurde eine Handelscompcignie, die Erben Cromwells grün¬ deten die parlamentarische Regierung, Wallensteins Hofastrologen stellten die Gesetze der himmlischen Mechanik fest, Papst Gregor ließ den Kalender ver¬ bessern, und während das protestantische Leben im Pietismus versumpfte, wandten sich die Wissenschaft und Kunst wieder den classischen Vorbildern zu. Die Revolution erfolgte dies Mal nicht am Anfang, sondern am Schluß der Periode. Der Uebergang aus dem kirchlichen Zeitalter in das Zeitalter der Auflä- rung ist unmerklich. Boileau und Molisre verherrlichten neben Racine und Bossuet den Hof Ludwigs XlV., und das untergehende Gestirn der Maintenon sah noch die ausgehende Sonne Voltaires. Das Volk hatte mit seinem Glauben so lange geherrscht, bis dem Glauben die Lebenskraft ausgegangen war. Sofort drängten sich die Gelehrten, die Aristokraten, die Gebildeten wieder auf den Thron der öffentlichen Cultur. Die Naturwissenschaft und Naturphilosophie war ununterbrochen fortgegangen, aber sie hatte schweigen müssen; jetzt drängte sie sich mit lautem Geschrei auf den Markt. Die Bildung hatte nun einen bestimmten Feind, oder wie man es jetzt nannte, den Aberglauben. Wenig dachten die Höfe und ihre Freunde daran, als sie sich am Candide und , an der Pucelle erfreuten, als sie selbst das «Möwe cle la nawrs in Schutz nahmen, daß sie damit der Demokratie in die Hände arbeiteten. Die Fürsten und die Vornehmen freuten sich, daß öffentlich verhöhnt wurde, was ihnen im Innern längst verächtlich geworden war. Die Kirche trat, wie in den Zeiten deS alten Humanismus, ganz aus der Bildung heraus und lebte in finsterm Groll in den Hütten der ländlichen Kirchspiele. Ganz Europa hatte wieder eine gemeinsame Bildung, ja einen gemeinsamen Glauben, denn der Haß zeigte dies Mal eine productive Kraft. Wenn auch Voltaire .und Rousseau, wenn auch die französischen Encyklopädisten und die deutschen Kritiker, wenn auch die Akademie und Goethe in vielen einzelnen Punkten voneinander abwichen, im Grunde strebten sie demselben Ziele zu. Es war die lange unterdrückte Leiden¬ schaft der Natur, es war der wilde Idealismus des Herzens, der seine Fesseln von sich warf. Zwar legte die deutsche Dichtung am Hof von Weimar wieder em akademisches Gewand an, aber damit konnte sie es nicht ungeschehen machen, daß sie einen Werther und Faust, einen Karl Moor und Ardinghello hervor¬ gebracht; das griechische Heidenthum ließ sich nicht mehr ersticken und auch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/372>, abgerufen am 21.06.2024.