Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

daß auch diese neue revolutionäre Periode trotz ihrer bunten, reizenden Ver¬
wirrung eine innere Harmonie zeigt, die der Harmonie des eigentlichen Mittel¬
alters nichts nachgibt.

Die herrschende Richtung des Zeitalters ging von den Gebildeten aus.
Das gebildetste Volk der Zeit, die Italiener, standen an der Spitze der Be¬
wegung; die Reaction schlummerte, ihrer selbst noch nicht bewußt, in den all¬
gemein verachteten niedern Schichten des Volks, welches das Christenthum noch
in einem ehrlichen Glauben empfing, während die Gebildeten ein frivoles phan¬
tastisches Spiel damit trieben. Am meisten entwickelt war diese Integrität des
Gemüths im deutschen Volk, welches auch noch immer seine eigne Literatur
harte, eine Literatur mit einer nicht sehr christlichen, aber durchaus ehrlichen
und treuherzigen Physiognomie, die hinter ihrer bescheidenen Außenseite eine
furchtbare Kraft verbarg. Der Ausbruch mußte erfolgen, sobald daS Volk zum
Bewußtsein kam, es werde in seinem Glauben von der Bildung betrogen. Daß
ein Hanswurst wie Tehel dies Bewußtsein hervorrufen mußte, ist eine eigen¬
thümliche Ironie der Geschichte.

Die Kraft der neuen Periode ging nicht von den Gebildeten aus, sondern
von dem Volk. Ein Sohn des Volkes war sein Prophet, und die hochmüthige
Bildung wurde zu Schanden. Zwar vertrugen sich im Anfang die Humani¬
sten ganz gut mit den Reformatoren, aber nur wenn ein drittes vermittelndes
Motiv, z. B. das nationale, dazu kam. Die aufrichtigen Vertreter der alten
Bildung, z. B. Erasmus, hielten sich von der neuen Bewegung fern, dieser nicht
etwa blos aus Charakterschwäche, sondern weil er den innern Kern des neuen
Lebens besser begriff, als viele andre seiner Zeitgenossen und weil er noch in
dem Aberglauben der vorigen Periode begriffen war, die Bildung müsse die
Welt regieren. Dies Mal war es aber nicht die Bildung, sondern der Glaube,
der sich zum Herrscher machte. Die Bauernsöhne, die Theologie studirt hatten,
wurden die Vertreter der Literatur, und die katholische Kirche, die plötzlich
wieder fromm wurde, fand in ihren Casuisten eine noch viel umfangreichere
literarische Unterstützung, als der Protestantismus. Den letzten Resten des
altheidnischen Germanismus wurden die Klauen beschnitten. Wo eine wirk¬
liche Kraft vorhanden war, trat sie in der Form des religiösen Fanatismus
auf, wie Cromwell. 'Zum ersten Mal war die Bibel jetzt ein wirkliches Evan¬
gelium der Welt geworden. Die Protestanten lernten aus ihr ihre Mutter¬
sprache, die Katholiken schöpften aus der Vulgata ihre Dichtung. Wenn die
glaubenlose Bildung wieder einmal sich vermessen sollte, allein das entscheidende
Wort zu fuhren, so muß man sie an die furchtbare Demüthigung erinnern,
die ihr widerfuhr,, als ein Calderon den dümmsten Aberglauben des Pöbels
Poetisch verklärte. Was in diesen Zeiten Großes hervorgebracht wurde, benutzte
den Glauben wenigstens als mitwirkende Kraft. Freilich trug die Schöpfung


46*

daß auch diese neue revolutionäre Periode trotz ihrer bunten, reizenden Ver¬
wirrung eine innere Harmonie zeigt, die der Harmonie des eigentlichen Mittel¬
alters nichts nachgibt.

Die herrschende Richtung des Zeitalters ging von den Gebildeten aus.
Das gebildetste Volk der Zeit, die Italiener, standen an der Spitze der Be¬
wegung; die Reaction schlummerte, ihrer selbst noch nicht bewußt, in den all¬
gemein verachteten niedern Schichten des Volks, welches das Christenthum noch
in einem ehrlichen Glauben empfing, während die Gebildeten ein frivoles phan¬
tastisches Spiel damit trieben. Am meisten entwickelt war diese Integrität des
Gemüths im deutschen Volk, welches auch noch immer seine eigne Literatur
harte, eine Literatur mit einer nicht sehr christlichen, aber durchaus ehrlichen
und treuherzigen Physiognomie, die hinter ihrer bescheidenen Außenseite eine
furchtbare Kraft verbarg. Der Ausbruch mußte erfolgen, sobald daS Volk zum
Bewußtsein kam, es werde in seinem Glauben von der Bildung betrogen. Daß
ein Hanswurst wie Tehel dies Bewußtsein hervorrufen mußte, ist eine eigen¬
thümliche Ironie der Geschichte.

Die Kraft der neuen Periode ging nicht von den Gebildeten aus, sondern
von dem Volk. Ein Sohn des Volkes war sein Prophet, und die hochmüthige
Bildung wurde zu Schanden. Zwar vertrugen sich im Anfang die Humani¬
sten ganz gut mit den Reformatoren, aber nur wenn ein drittes vermittelndes
Motiv, z. B. das nationale, dazu kam. Die aufrichtigen Vertreter der alten
Bildung, z. B. Erasmus, hielten sich von der neuen Bewegung fern, dieser nicht
etwa blos aus Charakterschwäche, sondern weil er den innern Kern des neuen
Lebens besser begriff, als viele andre seiner Zeitgenossen und weil er noch in
dem Aberglauben der vorigen Periode begriffen war, die Bildung müsse die
Welt regieren. Dies Mal war es aber nicht die Bildung, sondern der Glaube,
der sich zum Herrscher machte. Die Bauernsöhne, die Theologie studirt hatten,
wurden die Vertreter der Literatur, und die katholische Kirche, die plötzlich
wieder fromm wurde, fand in ihren Casuisten eine noch viel umfangreichere
literarische Unterstützung, als der Protestantismus. Den letzten Resten des
altheidnischen Germanismus wurden die Klauen beschnitten. Wo eine wirk¬
liche Kraft vorhanden war, trat sie in der Form des religiösen Fanatismus
auf, wie Cromwell. 'Zum ersten Mal war die Bibel jetzt ein wirkliches Evan¬
gelium der Welt geworden. Die Protestanten lernten aus ihr ihre Mutter¬
sprache, die Katholiken schöpften aus der Vulgata ihre Dichtung. Wenn die
glaubenlose Bildung wieder einmal sich vermessen sollte, allein das entscheidende
Wort zu fuhren, so muß man sie an die furchtbare Demüthigung erinnern,
die ihr widerfuhr,, als ein Calderon den dümmsten Aberglauben des Pöbels
Poetisch verklärte. Was in diesen Zeiten Großes hervorgebracht wurde, benutzte
den Glauben wenigstens als mitwirkende Kraft. Freilich trug die Schöpfung


46*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0371" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101898"/>
            <p xml:id="ID_951" prev="#ID_950"> daß auch diese neue revolutionäre Periode trotz ihrer bunten, reizenden Ver¬<lb/>
wirrung eine innere Harmonie zeigt, die der Harmonie des eigentlichen Mittel¬<lb/>
alters nichts nachgibt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_952"> Die herrschende Richtung des Zeitalters ging von den Gebildeten aus.<lb/>
Das gebildetste Volk der Zeit, die Italiener, standen an der Spitze der Be¬<lb/>
wegung; die Reaction schlummerte, ihrer selbst noch nicht bewußt, in den all¬<lb/>
gemein verachteten niedern Schichten des Volks, welches das Christenthum noch<lb/>
in einem ehrlichen Glauben empfing, während die Gebildeten ein frivoles phan¬<lb/>
tastisches Spiel damit trieben. Am meisten entwickelt war diese Integrität des<lb/>
Gemüths im deutschen Volk, welches auch noch immer seine eigne Literatur<lb/>
harte, eine Literatur mit einer nicht sehr christlichen, aber durchaus ehrlichen<lb/>
und treuherzigen Physiognomie, die hinter ihrer bescheidenen Außenseite eine<lb/>
furchtbare Kraft verbarg. Der Ausbruch mußte erfolgen, sobald daS Volk zum<lb/>
Bewußtsein kam, es werde in seinem Glauben von der Bildung betrogen. Daß<lb/>
ein Hanswurst wie Tehel dies Bewußtsein hervorrufen mußte, ist eine eigen¬<lb/>
thümliche Ironie der Geschichte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_953" next="#ID_954"> Die Kraft der neuen Periode ging nicht von den Gebildeten aus, sondern<lb/>
von dem Volk. Ein Sohn des Volkes war sein Prophet, und die hochmüthige<lb/>
Bildung wurde zu Schanden. Zwar vertrugen sich im Anfang die Humani¬<lb/>
sten ganz gut mit den Reformatoren, aber nur wenn ein drittes vermittelndes<lb/>
Motiv, z. B. das nationale, dazu kam. Die aufrichtigen Vertreter der alten<lb/>
Bildung, z. B. Erasmus, hielten sich von der neuen Bewegung fern, dieser nicht<lb/>
etwa blos aus Charakterschwäche, sondern weil er den innern Kern des neuen<lb/>
Lebens besser begriff, als viele andre seiner Zeitgenossen und weil er noch in<lb/>
dem Aberglauben der vorigen Periode begriffen war, die Bildung müsse die<lb/>
Welt regieren. Dies Mal war es aber nicht die Bildung, sondern der Glaube,<lb/>
der sich zum Herrscher machte. Die Bauernsöhne, die Theologie studirt hatten,<lb/>
wurden die Vertreter der Literatur, und die katholische Kirche, die plötzlich<lb/>
wieder fromm wurde, fand in ihren Casuisten eine noch viel umfangreichere<lb/>
literarische Unterstützung, als der Protestantismus. Den letzten Resten des<lb/>
altheidnischen Germanismus wurden die Klauen beschnitten. Wo eine wirk¬<lb/>
liche Kraft vorhanden war, trat sie in der Form des religiösen Fanatismus<lb/>
auf, wie Cromwell. 'Zum ersten Mal war die Bibel jetzt ein wirkliches Evan¬<lb/>
gelium der Welt geworden. Die Protestanten lernten aus ihr ihre Mutter¬<lb/>
sprache, die Katholiken schöpften aus der Vulgata ihre Dichtung. Wenn die<lb/>
glaubenlose Bildung wieder einmal sich vermessen sollte, allein das entscheidende<lb/>
Wort zu fuhren, so muß man sie an die furchtbare Demüthigung erinnern,<lb/>
die ihr widerfuhr,, als ein Calderon den dümmsten Aberglauben des Pöbels<lb/>
Poetisch verklärte. Was in diesen Zeiten Großes hervorgebracht wurde, benutzte<lb/>
den Glauben wenigstens als mitwirkende Kraft.  Freilich trug die Schöpfung</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 46*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0371] daß auch diese neue revolutionäre Periode trotz ihrer bunten, reizenden Ver¬ wirrung eine innere Harmonie zeigt, die der Harmonie des eigentlichen Mittel¬ alters nichts nachgibt. Die herrschende Richtung des Zeitalters ging von den Gebildeten aus. Das gebildetste Volk der Zeit, die Italiener, standen an der Spitze der Be¬ wegung; die Reaction schlummerte, ihrer selbst noch nicht bewußt, in den all¬ gemein verachteten niedern Schichten des Volks, welches das Christenthum noch in einem ehrlichen Glauben empfing, während die Gebildeten ein frivoles phan¬ tastisches Spiel damit trieben. Am meisten entwickelt war diese Integrität des Gemüths im deutschen Volk, welches auch noch immer seine eigne Literatur harte, eine Literatur mit einer nicht sehr christlichen, aber durchaus ehrlichen und treuherzigen Physiognomie, die hinter ihrer bescheidenen Außenseite eine furchtbare Kraft verbarg. Der Ausbruch mußte erfolgen, sobald daS Volk zum Bewußtsein kam, es werde in seinem Glauben von der Bildung betrogen. Daß ein Hanswurst wie Tehel dies Bewußtsein hervorrufen mußte, ist eine eigen¬ thümliche Ironie der Geschichte. Die Kraft der neuen Periode ging nicht von den Gebildeten aus, sondern von dem Volk. Ein Sohn des Volkes war sein Prophet, und die hochmüthige Bildung wurde zu Schanden. Zwar vertrugen sich im Anfang die Humani¬ sten ganz gut mit den Reformatoren, aber nur wenn ein drittes vermittelndes Motiv, z. B. das nationale, dazu kam. Die aufrichtigen Vertreter der alten Bildung, z. B. Erasmus, hielten sich von der neuen Bewegung fern, dieser nicht etwa blos aus Charakterschwäche, sondern weil er den innern Kern des neuen Lebens besser begriff, als viele andre seiner Zeitgenossen und weil er noch in dem Aberglauben der vorigen Periode begriffen war, die Bildung müsse die Welt regieren. Dies Mal war es aber nicht die Bildung, sondern der Glaube, der sich zum Herrscher machte. Die Bauernsöhne, die Theologie studirt hatten, wurden die Vertreter der Literatur, und die katholische Kirche, die plötzlich wieder fromm wurde, fand in ihren Casuisten eine noch viel umfangreichere literarische Unterstützung, als der Protestantismus. Den letzten Resten des altheidnischen Germanismus wurden die Klauen beschnitten. Wo eine wirk¬ liche Kraft vorhanden war, trat sie in der Form des religiösen Fanatismus auf, wie Cromwell. 'Zum ersten Mal war die Bibel jetzt ein wirkliches Evan¬ gelium der Welt geworden. Die Protestanten lernten aus ihr ihre Mutter¬ sprache, die Katholiken schöpften aus der Vulgata ihre Dichtung. Wenn die glaubenlose Bildung wieder einmal sich vermessen sollte, allein das entscheidende Wort zu fuhren, so muß man sie an die furchtbare Demüthigung erinnern, die ihr widerfuhr,, als ein Calderon den dümmsten Aberglauben des Pöbels Poetisch verklärte. Was in diesen Zeiten Großes hervorgebracht wurde, benutzte den Glauben wenigstens als mitwirkende Kraft. Freilich trug die Schöpfung 46*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/371
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/371>, abgerufen am 21.06.2024.