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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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den Worten eröffnet: "Eins war Europa in den großen Zeiten des Ritter-
thums u. s. w.", so vergißt er dabei, daß das von jeder Periode gilt, sobald
sie nur die Kraft hat, sich zu einer energischen Blüte zusammenzufassen. Er
vergißt ferner, daß trotz der Harmonie in der Erscheinung doch im Wesen selbst,
wie in jeder Periode, so auch in der Periode des Ritterthums ein starker Wider¬
spruch erhalten war, den man mit einem geläufigen Parteinamen jener Zeit
als die welfisch- und ghibellinische Bildung bezeichnen kann. Das Papstthum
und das Kaiserthum waren die beiden höchsten politischen Blüten jener Periode;
als die eine derselben der andern unterlegen war, war das Lebensprincip der
Periode erstickt.

Das nächste Zeitalter IM die Signatur der classischen Bildung. Ge¬
wöhnlich bezeichnet man mit dem Ausdruck Renaissance ein etwas späteres
Zeitalter, wobei man sich hauptsächlich auf die Entwicklung der Baukunst, der
Kleidertracht und andre äußerliche Erscheinungen bezieht. Aber die Wieder¬
geburt beginnt schon gegen das Ende des 13. Jahrhunderts, ja sie ist in
ihrem innersten Kern die Wiederaufnahme deS Ghibellinenthumö, das^ in der
Politik zu Boden geschlagen, sich auf die Literatur und Kunst warf. Es hat
eine/symbolische Bedeutung, daß der große Erneuerer der Kunstpoesie, der
Schüler Virgils, zugleich ein leidenschaftlicher Ghibelline war. Die Kirche
hatte gesiegt, aber wie in der frühern Periode die stegreichen Barbaren der
Cultur des Römerthums unterlagen, so nahm die Kirche die Bildung ihrer
Gegner an. Leo X. war der höchste Gipfel, aber keineswegs der Beginn dieser
Verweltlichung. Die Literatur und die Kunst gingen mit der Sitte Hand in
Hand. Macchiavell sprach unumwunden die Grundsätze aus, die im Stillen jeder¬
mann hegte, die aber freilich dem folgenden Zeitalter so fremd geworden wa¬
ren, daß man sich vergeblich darüber den Kopf zerbrach, was er sich dabei
gedacht haben könne. In den äußern Formen war ja die Kirche noch all¬
gemein herrschend; die Kunst und Wissenschaft dienten nur zu ihrer Verherr¬
lichung. Aber freilich wird die Sache begreiflich, wenn man neben die sirtini-
sche Madonna etwa die Leda und die Jo von Correggio hängt, wenn man
Tasso mit Arelim, Pulci und Ariost zusammenstellt, wenn man steht, ^vie in Ca-
moens die holdselige heidnische Venus als Beschützerin des Kreuzes gefeiert
wird. Das wiederauflebende Alterthum rächte sich an den siegreichen Barbaren
durch einen bittern Spott, der sich in den höchsten Kunstformen entwickelte, und
wie verschiedenen Gebieten auch der Ciceronianismuö des Erasmus und der Don
Quirote des Cervantes angehören ^ sie drücken doch denselben Geist aus, der
sich einfach und unbefangen im Fürsten, mystisch und mit der Anlage zur
Schwärmerei in Cardanus und seinen Nachfolgern entfaltet. Wenn man
noch dazu nimmt, daß die Entdeckung der neuen Welt, so wie das kopernicanische
System mit den Ausläufern der Periode zusammenfällt, so wird man zugeben,


den Worten eröffnet: „Eins war Europa in den großen Zeiten des Ritter-
thums u. s. w.", so vergißt er dabei, daß das von jeder Periode gilt, sobald
sie nur die Kraft hat, sich zu einer energischen Blüte zusammenzufassen. Er
vergißt ferner, daß trotz der Harmonie in der Erscheinung doch im Wesen selbst,
wie in jeder Periode, so auch in der Periode des Ritterthums ein starker Wider¬
spruch erhalten war, den man mit einem geläufigen Parteinamen jener Zeit
als die welfisch- und ghibellinische Bildung bezeichnen kann. Das Papstthum
und das Kaiserthum waren die beiden höchsten politischen Blüten jener Periode;
als die eine derselben der andern unterlegen war, war das Lebensprincip der
Periode erstickt.

Das nächste Zeitalter IM die Signatur der classischen Bildung. Ge¬
wöhnlich bezeichnet man mit dem Ausdruck Renaissance ein etwas späteres
Zeitalter, wobei man sich hauptsächlich auf die Entwicklung der Baukunst, der
Kleidertracht und andre äußerliche Erscheinungen bezieht. Aber die Wieder¬
geburt beginnt schon gegen das Ende des 13. Jahrhunderts, ja sie ist in
ihrem innersten Kern die Wiederaufnahme deS Ghibellinenthumö, das^ in der
Politik zu Boden geschlagen, sich auf die Literatur und Kunst warf. Es hat
eine/symbolische Bedeutung, daß der große Erneuerer der Kunstpoesie, der
Schüler Virgils, zugleich ein leidenschaftlicher Ghibelline war. Die Kirche
hatte gesiegt, aber wie in der frühern Periode die stegreichen Barbaren der
Cultur des Römerthums unterlagen, so nahm die Kirche die Bildung ihrer
Gegner an. Leo X. war der höchste Gipfel, aber keineswegs der Beginn dieser
Verweltlichung. Die Literatur und die Kunst gingen mit der Sitte Hand in
Hand. Macchiavell sprach unumwunden die Grundsätze aus, die im Stillen jeder¬
mann hegte, die aber freilich dem folgenden Zeitalter so fremd geworden wa¬
ren, daß man sich vergeblich darüber den Kopf zerbrach, was er sich dabei
gedacht haben könne. In den äußern Formen war ja die Kirche noch all¬
gemein herrschend; die Kunst und Wissenschaft dienten nur zu ihrer Verherr¬
lichung. Aber freilich wird die Sache begreiflich, wenn man neben die sirtini-
sche Madonna etwa die Leda und die Jo von Correggio hängt, wenn man
Tasso mit Arelim, Pulci und Ariost zusammenstellt, wenn man steht, ^vie in Ca-
moens die holdselige heidnische Venus als Beschützerin des Kreuzes gefeiert
wird. Das wiederauflebende Alterthum rächte sich an den siegreichen Barbaren
durch einen bittern Spott, der sich in den höchsten Kunstformen entwickelte, und
wie verschiedenen Gebieten auch der Ciceronianismuö des Erasmus und der Don
Quirote des Cervantes angehören ^ sie drücken doch denselben Geist aus, der
sich einfach und unbefangen im Fürsten, mystisch und mit der Anlage zur
Schwärmerei in Cardanus und seinen Nachfolgern entfaltet. Wenn man
noch dazu nimmt, daß die Entdeckung der neuen Welt, so wie das kopernicanische
System mit den Ausläufern der Periode zusammenfällt, so wird man zugeben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/370>, abgerufen am 21.06.2024.