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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Alenten'geschichte.
Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Von Hermann
Hettner. In drei Theilen. Erster Theil. Die englische Literatur von
1660 bis 1770. Braunschweig, Fr. Vieweg & Sohn. --

Mehr noch, als die politische Geschichte, zeigt die Literaturgeschichte, wenn
man sie in ihren großen Perspektiven verfolgt, einen innern Zusammenhang,
eine Folge und Gliederung, daß wenigstens ein Theil der Menschheit als ein
organisches Ganze erscheint. Dem Geschichtforscher und dem Philologen er¬
schließen sich freilich noch andre Gebiete, welche in diesen Zusammenhang nicht
gehören, z. B. die sehr umfangreiche oft- und südasiatische Literatur, die, so
weit wir es bis jetzt ermitteln können, zur europäischen Geschichte keine weitere
Beziehung hat, als eben jene Untersuchungen der Philologen; dagegen lassen
sich in der Literaturgeschichte Europas, wenn man sich nur nicht allzu pedan¬
tisch an die Jahreszahlen hält, da das Nachzittern der Bewegung die Wirk¬
samkeit de^ bewegenden Kraft überdauert, sehr scharf getrennte Perioden be¬
zeichnen, "deren jede ihre ganz bestimmte Physiognomie, oder, wie der her¬
gebrachte Ausdruck lautet, ihre Signatur hat. Wir machen bei der Durch¬
musterung dieser Perioden die Beobachtung, daß sich innerhalb jeder derselben,
zuerst ganz im Geheimen und unmerklich, eine Reaction herausstellt, die end¬
lich mit revolutionärer Kraft sich gegen die bisherige Autorität geltend macht
und zur Signatur der folgenden wird. Jede Periode ist gegen die nächst vorher¬
gehende ungerecht, weil sie einen feindseligen Gegensatz ausdrückt, und es bleibt
einem spätern, diesem Gegensatz entrückten Zeitalter vorbehalten, eine nachträg¬
liche Gerechtigkeit auszuüben.

So wurde die erste Culturperiode deS Mittelalters bis ganz vor kurzem
als ein Zeitalter der Barbarei gebrandmarkt und erst die Romantik, die nach
verwandten Stoffen suchte, mußte die Gelehrsamkeit darauf aufmerksam machen,
daß in der Periode des Ritterthums, der ungebrochnen Hierarchie, der Scho¬
lastik, der gothischen Baukunst u. s. w. eine innere Harmonie und dabei doch
ein Reichthum und eine Mannigfaltigkeit geherrscht hätte, die von einem ge¬
schickten Zeichner aufgefaßt, sich als ein höchst erfreuliches Bild darstellt. Wenn
aber A. W. Schlegel seine Blumensträuße aus den südlichen Dichtern mit


Grenzboten. II. 1836. 46
Alenten'geschichte.
Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Von Hermann
Hettner. In drei Theilen. Erster Theil. Die englische Literatur von
1660 bis 1770. Braunschweig, Fr. Vieweg & Sohn. —

Mehr noch, als die politische Geschichte, zeigt die Literaturgeschichte, wenn
man sie in ihren großen Perspektiven verfolgt, einen innern Zusammenhang,
eine Folge und Gliederung, daß wenigstens ein Theil der Menschheit als ein
organisches Ganze erscheint. Dem Geschichtforscher und dem Philologen er¬
schließen sich freilich noch andre Gebiete, welche in diesen Zusammenhang nicht
gehören, z. B. die sehr umfangreiche oft- und südasiatische Literatur, die, so
weit wir es bis jetzt ermitteln können, zur europäischen Geschichte keine weitere
Beziehung hat, als eben jene Untersuchungen der Philologen; dagegen lassen
sich in der Literaturgeschichte Europas, wenn man sich nur nicht allzu pedan¬
tisch an die Jahreszahlen hält, da das Nachzittern der Bewegung die Wirk¬
samkeit de^ bewegenden Kraft überdauert, sehr scharf getrennte Perioden be¬
zeichnen, «deren jede ihre ganz bestimmte Physiognomie, oder, wie der her¬
gebrachte Ausdruck lautet, ihre Signatur hat. Wir machen bei der Durch¬
musterung dieser Perioden die Beobachtung, daß sich innerhalb jeder derselben,
zuerst ganz im Geheimen und unmerklich, eine Reaction herausstellt, die end¬
lich mit revolutionärer Kraft sich gegen die bisherige Autorität geltend macht
und zur Signatur der folgenden wird. Jede Periode ist gegen die nächst vorher¬
gehende ungerecht, weil sie einen feindseligen Gegensatz ausdrückt, und es bleibt
einem spätern, diesem Gegensatz entrückten Zeitalter vorbehalten, eine nachträg¬
liche Gerechtigkeit auszuüben.

So wurde die erste Culturperiode deS Mittelalters bis ganz vor kurzem
als ein Zeitalter der Barbarei gebrandmarkt und erst die Romantik, die nach
verwandten Stoffen suchte, mußte die Gelehrsamkeit darauf aufmerksam machen,
daß in der Periode des Ritterthums, der ungebrochnen Hierarchie, der Scho¬
lastik, der gothischen Baukunst u. s. w. eine innere Harmonie und dabei doch
ein Reichthum und eine Mannigfaltigkeit geherrscht hätte, die von einem ge¬
schickten Zeichner aufgefaßt, sich als ein höchst erfreuliches Bild darstellt. Wenn
aber A. W. Schlegel seine Blumensträuße aus den südlichen Dichtern mit


Grenzboten. II. 1836. 46
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[0369] Alenten'geschichte. Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Von Hermann Hettner. In drei Theilen. Erster Theil. Die englische Literatur von 1660 bis 1770. Braunschweig, Fr. Vieweg & Sohn. — Mehr noch, als die politische Geschichte, zeigt die Literaturgeschichte, wenn man sie in ihren großen Perspektiven verfolgt, einen innern Zusammenhang, eine Folge und Gliederung, daß wenigstens ein Theil der Menschheit als ein organisches Ganze erscheint. Dem Geschichtforscher und dem Philologen er¬ schließen sich freilich noch andre Gebiete, welche in diesen Zusammenhang nicht gehören, z. B. die sehr umfangreiche oft- und südasiatische Literatur, die, so weit wir es bis jetzt ermitteln können, zur europäischen Geschichte keine weitere Beziehung hat, als eben jene Untersuchungen der Philologen; dagegen lassen sich in der Literaturgeschichte Europas, wenn man sich nur nicht allzu pedan¬ tisch an die Jahreszahlen hält, da das Nachzittern der Bewegung die Wirk¬ samkeit de^ bewegenden Kraft überdauert, sehr scharf getrennte Perioden be¬ zeichnen, «deren jede ihre ganz bestimmte Physiognomie, oder, wie der her¬ gebrachte Ausdruck lautet, ihre Signatur hat. Wir machen bei der Durch¬ musterung dieser Perioden die Beobachtung, daß sich innerhalb jeder derselben, zuerst ganz im Geheimen und unmerklich, eine Reaction herausstellt, die end¬ lich mit revolutionärer Kraft sich gegen die bisherige Autorität geltend macht und zur Signatur der folgenden wird. Jede Periode ist gegen die nächst vorher¬ gehende ungerecht, weil sie einen feindseligen Gegensatz ausdrückt, und es bleibt einem spätern, diesem Gegensatz entrückten Zeitalter vorbehalten, eine nachträg¬ liche Gerechtigkeit auszuüben. So wurde die erste Culturperiode deS Mittelalters bis ganz vor kurzem als ein Zeitalter der Barbarei gebrandmarkt und erst die Romantik, die nach verwandten Stoffen suchte, mußte die Gelehrsamkeit darauf aufmerksam machen, daß in der Periode des Ritterthums, der ungebrochnen Hierarchie, der Scho¬ lastik, der gothischen Baukunst u. s. w. eine innere Harmonie und dabei doch ein Reichthum und eine Mannigfaltigkeit geherrscht hätte, die von einem ge¬ schickten Zeichner aufgefaßt, sich als ein höchst erfreuliches Bild darstellt. Wenn aber A. W. Schlegel seine Blumensträuße aus den südlichen Dichtern mit Grenzboten. II. 1836. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/369>, abgerufen am 21.06.2024.