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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Novellen Von Hermann Grimm.

Berlin, Hertz. --

Wir sind bei der Besprechung der zahlreichen Romane, die jedes Jahr
hervorbringt, selten in der Lage, mehr, als, den gewöhnlichen Beifall auszu¬
sprechen, mit dem man ein Buch empfängt, gegen welches sich keine erheblichen
Ausstellungen machen lassen, für dessen Cristenz aber auch kein stichhaltiger
Grund anzuführen ist. Wir freuen uns, dies Mal einen andern Standpunkt
einnehmen zu können. Das Werk, das uns vorliegt, ist die Schöpfung eines
echten Dichters, eines Dichters, der in Bezug auf die bestimmte Kunst, um die
es sich hier handelt, aus dem richtigen Wege ist. Wir können ihm in dieser
Gattung nur'zwei Leistungen zur Seite stellen: die Novellen von Paul Heyse
und von Gottfried Keller. In dieser Reihe nimmt der Dichter eine sehr ehren¬
volle Stelle ein, und wir möchten ihm sogar den Vorzug geben. Zuerst fällt
das feine Auge für die Erscheinungen der Natur auf. Sie sind gewissermaßen
ihrem innersten Lebensnerv nachgefühlt und durch Farbe und Stimmung sehr
glücklich wiedergegeben. Mit derselben Aufmerksamkeit verfolgt der Dichter aber
auch die Bewegungen der Seele; jeder einzelne Zug ist aus dem vollen Leben
herausgeschöpft und verräth zugleich ein warmes Herz und einen richtigen Ver¬
stand. Mit jener Virtuosität in der Analyse, welche unsrer Zeit überhaupt
eigenthümlich ist, späht der Dichter jeder einzelnen Regung nach: aber, was
das Wichtigste ist, er büßt darüber nicht den Blick für das Ganze ein. ' Die
Begebenheiten, die er erzählt, sind einfach, aber die daran sich entwickelnden
Seelenstimmungen beschäftigen uns so lebhast, daß wir keinen Augenblick er¬
müdet werden. Der Dichter geht von dem sehr richtigen Grundsatz aus, es
sei die Aufgabe der Poesie, das Schöne zu zeigen. Der Fehler, in den die
meisten neuern Poeten verfallen, ihre Virtuosität im Häßlichen zu entfalten,
bleibt ihm fern. Wir finden in sämmtlichen Gemälden keinen einzigen wirklich
störenden Zug, der den schönen Eindruck des Ganzen verkümmerte, und so
können wir auch in sittlicher Beziehung, obgleich unnützes Moralistren voll¬
ständig vermieden ist, unsre unbedingte Anerkennung aussprechen.

Schon die frühern Leistungen Hermann Grimms haben, wir mit Auf¬
merksamkeit verfolgt. Einzelne Schönheiten von großem Werth, Spuren einer
echten Dichternatur haben wir überall angetroffen, aber kein einziges dieser
Werke hat einen durchweg erfreulichen und befriedigenden Eindruck auf uns
gemacht; namentlich sind wir der Ansicht, daß sein Talent fürs Drama nicht
ausreichend ist. In der neuen Sphäre dagegen zeigt er sich vollkommen zu
Hause, und indem wir die besten Hoffnungen für seine Zukunft daraus schöpfen,
erlauben wir uns noch, ihm einen Rath zu ertheilen.

Die Genremalerei kann nur für einen gewissen Raum ausreichen; treibt


Novellen Von Hermann Grimm.

Berlin, Hertz. —

Wir sind bei der Besprechung der zahlreichen Romane, die jedes Jahr
hervorbringt, selten in der Lage, mehr, als, den gewöhnlichen Beifall auszu¬
sprechen, mit dem man ein Buch empfängt, gegen welches sich keine erheblichen
Ausstellungen machen lassen, für dessen Cristenz aber auch kein stichhaltiger
Grund anzuführen ist. Wir freuen uns, dies Mal einen andern Standpunkt
einnehmen zu können. Das Werk, das uns vorliegt, ist die Schöpfung eines
echten Dichters, eines Dichters, der in Bezug auf die bestimmte Kunst, um die
es sich hier handelt, aus dem richtigen Wege ist. Wir können ihm in dieser
Gattung nur'zwei Leistungen zur Seite stellen: die Novellen von Paul Heyse
und von Gottfried Keller. In dieser Reihe nimmt der Dichter eine sehr ehren¬
volle Stelle ein, und wir möchten ihm sogar den Vorzug geben. Zuerst fällt
das feine Auge für die Erscheinungen der Natur auf. Sie sind gewissermaßen
ihrem innersten Lebensnerv nachgefühlt und durch Farbe und Stimmung sehr
glücklich wiedergegeben. Mit derselben Aufmerksamkeit verfolgt der Dichter aber
auch die Bewegungen der Seele; jeder einzelne Zug ist aus dem vollen Leben
herausgeschöpft und verräth zugleich ein warmes Herz und einen richtigen Ver¬
stand. Mit jener Virtuosität in der Analyse, welche unsrer Zeit überhaupt
eigenthümlich ist, späht der Dichter jeder einzelnen Regung nach: aber, was
das Wichtigste ist, er büßt darüber nicht den Blick für das Ganze ein. ' Die
Begebenheiten, die er erzählt, sind einfach, aber die daran sich entwickelnden
Seelenstimmungen beschäftigen uns so lebhast, daß wir keinen Augenblick er¬
müdet werden. Der Dichter geht von dem sehr richtigen Grundsatz aus, es
sei die Aufgabe der Poesie, das Schöne zu zeigen. Der Fehler, in den die
meisten neuern Poeten verfallen, ihre Virtuosität im Häßlichen zu entfalten,
bleibt ihm fern. Wir finden in sämmtlichen Gemälden keinen einzigen wirklich
störenden Zug, der den schönen Eindruck des Ganzen verkümmerte, und so
können wir auch in sittlicher Beziehung, obgleich unnützes Moralistren voll¬
ständig vermieden ist, unsre unbedingte Anerkennung aussprechen.

Schon die frühern Leistungen Hermann Grimms haben, wir mit Auf¬
merksamkeit verfolgt. Einzelne Schönheiten von großem Werth, Spuren einer
echten Dichternatur haben wir überall angetroffen, aber kein einziges dieser
Werke hat einen durchweg erfreulichen und befriedigenden Eindruck auf uns
gemacht; namentlich sind wir der Ansicht, daß sein Talent fürs Drama nicht
ausreichend ist. In der neuen Sphäre dagegen zeigt er sich vollkommen zu
Hause, und indem wir die besten Hoffnungen für seine Zukunft daraus schöpfen,
erlauben wir uns noch, ihm einen Rath zu ertheilen.

Die Genremalerei kann nur für einen gewissen Raum ausreichen; treibt


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[0362] Novellen Von Hermann Grimm. Berlin, Hertz. — Wir sind bei der Besprechung der zahlreichen Romane, die jedes Jahr hervorbringt, selten in der Lage, mehr, als, den gewöhnlichen Beifall auszu¬ sprechen, mit dem man ein Buch empfängt, gegen welches sich keine erheblichen Ausstellungen machen lassen, für dessen Cristenz aber auch kein stichhaltiger Grund anzuführen ist. Wir freuen uns, dies Mal einen andern Standpunkt einnehmen zu können. Das Werk, das uns vorliegt, ist die Schöpfung eines echten Dichters, eines Dichters, der in Bezug auf die bestimmte Kunst, um die es sich hier handelt, aus dem richtigen Wege ist. Wir können ihm in dieser Gattung nur'zwei Leistungen zur Seite stellen: die Novellen von Paul Heyse und von Gottfried Keller. In dieser Reihe nimmt der Dichter eine sehr ehren¬ volle Stelle ein, und wir möchten ihm sogar den Vorzug geben. Zuerst fällt das feine Auge für die Erscheinungen der Natur auf. Sie sind gewissermaßen ihrem innersten Lebensnerv nachgefühlt und durch Farbe und Stimmung sehr glücklich wiedergegeben. Mit derselben Aufmerksamkeit verfolgt der Dichter aber auch die Bewegungen der Seele; jeder einzelne Zug ist aus dem vollen Leben herausgeschöpft und verräth zugleich ein warmes Herz und einen richtigen Ver¬ stand. Mit jener Virtuosität in der Analyse, welche unsrer Zeit überhaupt eigenthümlich ist, späht der Dichter jeder einzelnen Regung nach: aber, was das Wichtigste ist, er büßt darüber nicht den Blick für das Ganze ein. ' Die Begebenheiten, die er erzählt, sind einfach, aber die daran sich entwickelnden Seelenstimmungen beschäftigen uns so lebhast, daß wir keinen Augenblick er¬ müdet werden. Der Dichter geht von dem sehr richtigen Grundsatz aus, es sei die Aufgabe der Poesie, das Schöne zu zeigen. Der Fehler, in den die meisten neuern Poeten verfallen, ihre Virtuosität im Häßlichen zu entfalten, bleibt ihm fern. Wir finden in sämmtlichen Gemälden keinen einzigen wirklich störenden Zug, der den schönen Eindruck des Ganzen verkümmerte, und so können wir auch in sittlicher Beziehung, obgleich unnützes Moralistren voll¬ ständig vermieden ist, unsre unbedingte Anerkennung aussprechen. Schon die frühern Leistungen Hermann Grimms haben, wir mit Auf¬ merksamkeit verfolgt. Einzelne Schönheiten von großem Werth, Spuren einer echten Dichternatur haben wir überall angetroffen, aber kein einziges dieser Werke hat einen durchweg erfreulichen und befriedigenden Eindruck auf uns gemacht; namentlich sind wir der Ansicht, daß sein Talent fürs Drama nicht ausreichend ist. In der neuen Sphäre dagegen zeigt er sich vollkommen zu Hause, und indem wir die besten Hoffnungen für seine Zukunft daraus schöpfen, erlauben wir uns noch, ihm einen Rath zu ertheilen. Die Genremalerei kann nur für einen gewissen Raum ausreichen; treibt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/362>, abgerufen am 21.06.2024.