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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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sehen Wendungen. -- Gegen die beiden frühern Bände steht der gegenwärtige
in einer doppelten Beziehung im Nachtheil: einmal haben sie nicht in dem
Grade den Reiz der Neuheit, da die Zahl der unbenützten Quellen, -die dem
Verfasser zu Gebote standen, dies Mal geringer ist; sodann kam es dies Mal
mehr darauf an, durch feine, geistvolle Charakteristik der einzelnen Figuren dem
Bekannten einen neuen Reiz zu geben und den Verzweigungen der Politik in
allen Kanälen des geistigen Lebens nachzuspüren. Hier reicht das Talent des
Verfassers nicht vollständig aus. Seine Charakteristik ist richtig, aber sie hat
nicht jenen Zauber der Genialität, den wir durch neue glänzende Leistungen
der Geschichtschreibung gewissermaßen zu beanspruchen verwöhnt sind. Dagegen
hat das Buch den Vorzug einer klaren, deutlichen, durchaus volkstümlichen
Schreibart, und es liegt in dem Gegenstand selbst Interesse genug, um die Bei¬
hilfe der Kunst überflüssig zu machen.

In der Erforschung der Thatsachen ist der Verfasser gewissenhaft zu Werke
gegangen, und wenigstens im Allgemeinen darf man behaupten, daß alles, was
er erzählt, feststeht, wenn auch bei den widersprechenden Angaben der unzäh¬
ligen Quellen manches im Dunkel bleiben mußte. Von den drei Gegenständen,
deren Darstellung der gegenwärtige Band umfaßt, den Fortschritten und Ueber¬
treibungen der Franzosen, der innern Wiedergeburt Preußens und dem Ver¬
halten Oestreichs, sind die beiden ersten erschöpfend behandelt. Der letztere läßt
viel zu wünschen übrig, woran freilich der Verfasser unschuldig ist, da von jener
Seite die Quellen noch immer sehr spärlich fließen. Vielleicht der vortrefflichste
Theil ist die Schilderung der rheinbündischen Zustände, namentlich des pro-
jectirten Königreichs Westphalen, wobei man noch rühmend erwähnen muß,
daß trotz seines gerechten Abscheus gegen die französische Herrschaft der Ver¬
fasser in der Benutzung polemischer Schriften.sehr behutsam zu Werke geht.

So sind wir denn wieder in unsrer Literatur um ein bedeutendes Feld be¬
reichert. Die schwerste Periode der deutschen Geschichte hat eine würdige
Darstellung gefunden und an der Hand dieses Leitfadens kann sich nun das
deutsche Volk in das genauere Studium des Details vertiefen, damit ihm seine
'Vorzeit völlig zur Gegenwart werde, seine Schande sich lebendig in sein Herz
nngrabe und sein wohlerworbener Ruhm ein freudiges Licht auch auf die Zu¬
kunft werfe. Denn in der That ist es Gegenwart, was wir hier zum zweiten
Mal erleben. Ein großer Theil der Schäden, an denen damals Deutschland
unterging, ist noch immer nicht geheilt, die Gefahren sino noch immer vorhan¬
den, aber auch die Kraft ist nicht verloren, mit welcher damals das Volk sich
Recht zu verschaffen wußte. Für den männlichen, unerschrockenen Freimuth,
^t welchem der Verfasser die Sonde in Deutschlands Wunden legt, verdient er
den Dank der Nation.




Grenzboten. II. 18ö6.

sehen Wendungen. — Gegen die beiden frühern Bände steht der gegenwärtige
in einer doppelten Beziehung im Nachtheil: einmal haben sie nicht in dem
Grade den Reiz der Neuheit, da die Zahl der unbenützten Quellen, -die dem
Verfasser zu Gebote standen, dies Mal geringer ist; sodann kam es dies Mal
mehr darauf an, durch feine, geistvolle Charakteristik der einzelnen Figuren dem
Bekannten einen neuen Reiz zu geben und den Verzweigungen der Politik in
allen Kanälen des geistigen Lebens nachzuspüren. Hier reicht das Talent des
Verfassers nicht vollständig aus. Seine Charakteristik ist richtig, aber sie hat
nicht jenen Zauber der Genialität, den wir durch neue glänzende Leistungen
der Geschichtschreibung gewissermaßen zu beanspruchen verwöhnt sind. Dagegen
hat das Buch den Vorzug einer klaren, deutlichen, durchaus volkstümlichen
Schreibart, und es liegt in dem Gegenstand selbst Interesse genug, um die Bei¬
hilfe der Kunst überflüssig zu machen.

In der Erforschung der Thatsachen ist der Verfasser gewissenhaft zu Werke
gegangen, und wenigstens im Allgemeinen darf man behaupten, daß alles, was
er erzählt, feststeht, wenn auch bei den widersprechenden Angaben der unzäh¬
ligen Quellen manches im Dunkel bleiben mußte. Von den drei Gegenständen,
deren Darstellung der gegenwärtige Band umfaßt, den Fortschritten und Ueber¬
treibungen der Franzosen, der innern Wiedergeburt Preußens und dem Ver¬
halten Oestreichs, sind die beiden ersten erschöpfend behandelt. Der letztere läßt
viel zu wünschen übrig, woran freilich der Verfasser unschuldig ist, da von jener
Seite die Quellen noch immer sehr spärlich fließen. Vielleicht der vortrefflichste
Theil ist die Schilderung der rheinbündischen Zustände, namentlich des pro-
jectirten Königreichs Westphalen, wobei man noch rühmend erwähnen muß,
daß trotz seines gerechten Abscheus gegen die französische Herrschaft der Ver¬
fasser in der Benutzung polemischer Schriften.sehr behutsam zu Werke geht.

So sind wir denn wieder in unsrer Literatur um ein bedeutendes Feld be¬
reichert. Die schwerste Periode der deutschen Geschichte hat eine würdige
Darstellung gefunden und an der Hand dieses Leitfadens kann sich nun das
deutsche Volk in das genauere Studium des Details vertiefen, damit ihm seine
'Vorzeit völlig zur Gegenwart werde, seine Schande sich lebendig in sein Herz
nngrabe und sein wohlerworbener Ruhm ein freudiges Licht auch auf die Zu¬
kunft werfe. Denn in der That ist es Gegenwart, was wir hier zum zweiten
Mal erleben. Ein großer Theil der Schäden, an denen damals Deutschland
unterging, ist noch immer nicht geheilt, die Gefahren sino noch immer vorhan¬
den, aber auch die Kraft ist nicht verloren, mit welcher damals das Volk sich
Recht zu verschaffen wußte. Für den männlichen, unerschrockenen Freimuth,
^t welchem der Verfasser die Sonde in Deutschlands Wunden legt, verdient er
den Dank der Nation.




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[0361] sehen Wendungen. — Gegen die beiden frühern Bände steht der gegenwärtige in einer doppelten Beziehung im Nachtheil: einmal haben sie nicht in dem Grade den Reiz der Neuheit, da die Zahl der unbenützten Quellen, -die dem Verfasser zu Gebote standen, dies Mal geringer ist; sodann kam es dies Mal mehr darauf an, durch feine, geistvolle Charakteristik der einzelnen Figuren dem Bekannten einen neuen Reiz zu geben und den Verzweigungen der Politik in allen Kanälen des geistigen Lebens nachzuspüren. Hier reicht das Talent des Verfassers nicht vollständig aus. Seine Charakteristik ist richtig, aber sie hat nicht jenen Zauber der Genialität, den wir durch neue glänzende Leistungen der Geschichtschreibung gewissermaßen zu beanspruchen verwöhnt sind. Dagegen hat das Buch den Vorzug einer klaren, deutlichen, durchaus volkstümlichen Schreibart, und es liegt in dem Gegenstand selbst Interesse genug, um die Bei¬ hilfe der Kunst überflüssig zu machen. In der Erforschung der Thatsachen ist der Verfasser gewissenhaft zu Werke gegangen, und wenigstens im Allgemeinen darf man behaupten, daß alles, was er erzählt, feststeht, wenn auch bei den widersprechenden Angaben der unzäh¬ ligen Quellen manches im Dunkel bleiben mußte. Von den drei Gegenständen, deren Darstellung der gegenwärtige Band umfaßt, den Fortschritten und Ueber¬ treibungen der Franzosen, der innern Wiedergeburt Preußens und dem Ver¬ halten Oestreichs, sind die beiden ersten erschöpfend behandelt. Der letztere läßt viel zu wünschen übrig, woran freilich der Verfasser unschuldig ist, da von jener Seite die Quellen noch immer sehr spärlich fließen. Vielleicht der vortrefflichste Theil ist die Schilderung der rheinbündischen Zustände, namentlich des pro- jectirten Königreichs Westphalen, wobei man noch rühmend erwähnen muß, daß trotz seines gerechten Abscheus gegen die französische Herrschaft der Ver¬ fasser in der Benutzung polemischer Schriften.sehr behutsam zu Werke geht. So sind wir denn wieder in unsrer Literatur um ein bedeutendes Feld be¬ reichert. Die schwerste Periode der deutschen Geschichte hat eine würdige Darstellung gefunden und an der Hand dieses Leitfadens kann sich nun das deutsche Volk in das genauere Studium des Details vertiefen, damit ihm seine 'Vorzeit völlig zur Gegenwart werde, seine Schande sich lebendig in sein Herz nngrabe und sein wohlerworbener Ruhm ein freudiges Licht auch auf die Zu¬ kunft werfe. Denn in der That ist es Gegenwart, was wir hier zum zweiten Mal erleben. Ein großer Theil der Schäden, an denen damals Deutschland unterging, ist noch immer nicht geheilt, die Gefahren sino noch immer vorhan¬ den, aber auch die Kraft ist nicht verloren, mit welcher damals das Volk sich Recht zu verschaffen wußte. Für den männlichen, unerschrockenen Freimuth, ^t welchem der Verfasser die Sonde in Deutschlands Wunden legt, verdient er den Dank der Nation. Grenzboten. II. 18ö6.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/361>, abgerufen am 05.07.2024.