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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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theoretische Stellung der meisten deutschen Staaten zur russisch-türkischen Frage
mit sich, daß man den unabhängigen Blättern in Bezug auf das große Welt¬
interesse wenigstens bis zu einem gewissen Punkte verstattete, die öffentlichen
Ueberzeugungen der weitaus größten Mehrzahl der deutschen Bevölkerung aus-
zusprechen. Freilich geschah es trotzdem oft, daß eine Zeitung das momentan
wohlgefällige Maß gnädigst nachgesehener Selbstständigkeit ihres Votums über¬
schritt, so daß sie von administrativer Maßregelung getroffen wurde, obgleich
sie einem gerichtlichen Verfahren nicht zu unterwerfen war. Allein solche
Privatschicksale konnten von der Oeffentlichkeit nur selten nach dem ganzen
Umfange ihrer symptomatischen Bedeutung empfunden und gewürdigt werden.
An eine principielle Erörterung der rechtlichen Stellung der Presse in den
deutschen Vaterländern war kaum ausnahmsweise zu denken. Tauchte sie hier
oder da einmal auf, so ging sie am anders beschäftigten Publicum meistens
eindrucklos vorüber. Und Dank den allenthalben so weit ausgedehnten Be¬
fugnissen der Polizei- und Administrativbehörden wagte selbst die "ausländische"
deutsche Presse höchst selten sich der Zustände ihrer College" in irgend einem
deutschen Staate anzunehmen, um sich dort nicht mißliebig zu machen, ihren
Postdebit nicht zu gefährden u. f. w. Man registrirte nur trocken die That¬
sachen. Aber auch der Eindruck dieser kurzen Notizen mußte sich abstumpfen,
wenn z. B., wie im April v. I. in einem deutschen Bundesstaat, im ganzen
Monat blos zwei Tage ohne eine Preßmaßregelung cristirten, die dafür an
andern Tagen durch drei und vier überreichlich ausgeglichen wurden.

Auch uns liegt hier eine principielle Erörterung dieser Zustände fern.
Wenn wir eine Umschau auf dem Gebiete des Preßlebens versuchen, so macht
dieselbe weder auf Vollständigkeit Anspruch, noch greift sie über den Beginn
laufenden Jahres zurück. Jene idealistische Zeit ist vorüber, wo der
Publicist sich einbilden durfte, für die Herbeiführung besserer Zustände wenig¬
stens etwas wirken-zu können, wenn er -- um ein recht gewöhnliches Wort
in brauchen -- etwas riskirte. Darin liegt aber auch der zweite Grund,
warum eine detaillirtere Darstellung der Maßregeln auf dem Gebiete der
Presse unmöglich ist. Die davon betroffenen Organe verschweigen selbst gern
^'n größten Theil der gegen sie angestrengten Mittel. Eine Darlegung der¬
selben, wenn überhaupt möglich, würde nur die Mißgunst der Beaufsichtigungs-
organe vermehren und die Rechtszustände dennoch nicht verbessern. Ja manche
"fahren wol selbst nur durch Zufall die eine oder andere Maßregel, welche
da oder dort gegen sie ip Anwendung gebracht wurde. Von beiden haben
grade die letzten Wochen verschiedene Beispiele mehr gelegentlich und zufällig
"is absichtlich, in die Oeffentlichkeit treten lassen. Wer aber mit mehren
Organen der Tagespresse verkehrt, weiß auch sehr wohl, daß damit nur sehr
wenige von den hundert und aberhundert Thatsachen bekannt wurden, zu


theoretische Stellung der meisten deutschen Staaten zur russisch-türkischen Frage
mit sich, daß man den unabhängigen Blättern in Bezug auf das große Welt¬
interesse wenigstens bis zu einem gewissen Punkte verstattete, die öffentlichen
Ueberzeugungen der weitaus größten Mehrzahl der deutschen Bevölkerung aus-
zusprechen. Freilich geschah es trotzdem oft, daß eine Zeitung das momentan
wohlgefällige Maß gnädigst nachgesehener Selbstständigkeit ihres Votums über¬
schritt, so daß sie von administrativer Maßregelung getroffen wurde, obgleich
sie einem gerichtlichen Verfahren nicht zu unterwerfen war. Allein solche
Privatschicksale konnten von der Oeffentlichkeit nur selten nach dem ganzen
Umfange ihrer symptomatischen Bedeutung empfunden und gewürdigt werden.
An eine principielle Erörterung der rechtlichen Stellung der Presse in den
deutschen Vaterländern war kaum ausnahmsweise zu denken. Tauchte sie hier
oder da einmal auf, so ging sie am anders beschäftigten Publicum meistens
eindrucklos vorüber. Und Dank den allenthalben so weit ausgedehnten Be¬
fugnissen der Polizei- und Administrativbehörden wagte selbst die „ausländische"
deutsche Presse höchst selten sich der Zustände ihrer College» in irgend einem
deutschen Staate anzunehmen, um sich dort nicht mißliebig zu machen, ihren
Postdebit nicht zu gefährden u. f. w. Man registrirte nur trocken die That¬
sachen. Aber auch der Eindruck dieser kurzen Notizen mußte sich abstumpfen,
wenn z. B., wie im April v. I. in einem deutschen Bundesstaat, im ganzen
Monat blos zwei Tage ohne eine Preßmaßregelung cristirten, die dafür an
andern Tagen durch drei und vier überreichlich ausgeglichen wurden.

Auch uns liegt hier eine principielle Erörterung dieser Zustände fern.
Wenn wir eine Umschau auf dem Gebiete des Preßlebens versuchen, so macht
dieselbe weder auf Vollständigkeit Anspruch, noch greift sie über den Beginn
laufenden Jahres zurück. Jene idealistische Zeit ist vorüber, wo der
Publicist sich einbilden durfte, für die Herbeiführung besserer Zustände wenig¬
stens etwas wirken-zu können, wenn er — um ein recht gewöhnliches Wort
in brauchen — etwas riskirte. Darin liegt aber auch der zweite Grund,
warum eine detaillirtere Darstellung der Maßregeln auf dem Gebiete der
Presse unmöglich ist. Die davon betroffenen Organe verschweigen selbst gern
^'n größten Theil der gegen sie angestrengten Mittel. Eine Darlegung der¬
selben, wenn überhaupt möglich, würde nur die Mißgunst der Beaufsichtigungs-
organe vermehren und die Rechtszustände dennoch nicht verbessern. Ja manche
«fahren wol selbst nur durch Zufall die eine oder andere Maßregel, welche
da oder dort gegen sie ip Anwendung gebracht wurde. Von beiden haben
grade die letzten Wochen verschiedene Beispiele mehr gelegentlich und zufällig
"is absichtlich, in die Oeffentlichkeit treten lassen. Wer aber mit mehren
Organen der Tagespresse verkehrt, weiß auch sehr wohl, daß damit nur sehr
wenige von den hundert und aberhundert Thatsachen bekannt wurden, zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/311>, abgerufen am 22.06.2024.