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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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andern Sinn hat, als bei uns, so ist keiner der deutschen Staaten in jenen"
Sinn souverän und national, wie wir uns diese Begriffe nach dem Vorbild'
anderer Völker versinnlichen; aber der Grad dieses Mangels und folglich der
Grad der Sehnsucht nach Einheit ist in den verschiedenen Staaten verschieden,
am stärksten in den ganz kleinen Staaten, welche die Uebelstände der Klein¬
staaterei am lebhaftesten empfinden und keine gemeinsame Erinnerung, kein ge¬
meinsames Vorurtheil aufzuopfern haben. Was die Mittelstaaten betrifft, so
wird die Einheitspartei nur aus einem kleinen Theil der am freiesten gebildeten
Elasten beruhen; unter den übrigen werden sich mehr Gegner als Freunde
finden, namentlich wenn die Form der Einheit als Unterwerfung unter einen
fremden Volksstamm erscheint. Der Sachse, der Baier, der Würtenberger u. s. w,
hat ein eignes Selbstgefühl; sie alle empfinden die scheinbare Uebe'rlegenheit
des Preußen mit Unbehagen, und wenn man auch diese Befangenheit durch
Raisonnement überwindet, so wird daS daraus hervorgehende Resultat selten
stark genug sein, um das zu leisten, was Gagern von einer nationalen Er¬
hebung verlangt. Auf die Demokraten, die Aufrührer in Baden und Sachsen
konnte sich Preußen doch unmöglich stützen, und was die Sympathien der Ge¬
bildeten betrifft, so waren diese zu Ende des Jahres 4 830 wol noch vorhanden,
aber wenn das schreckliche Unglück eines Bürgerkriegs erfolgt wäre, so wäre
vermöge jener Gesinnungen kein einziger Soldat übergegangen. Wir bemerken
das alles, um folgenden Satz schärfer hervorzuheben: man überschätzt die Hilfe,
welche Preußen aus Kleindeutschland erlangen kann; Preußen kann sich nur
auf seine eigne Kraft stützen. Wie wichtig dieser Satz ist, wird sich im Folgen¬
den ergeben.

Der verhängnißvollste Irrthum in Bezug auf die Abschätzung der Kräfte
ist in folgendem Satz ausgedrückt: "Das Maß der politischen Freiheit, das
Verhältniß der gesellschaftlichen Stände zueinander, -- nächste Ursachen der
Revolution in Frankreich, -- waren bei der deutschen Bewegung des Jah-
n's -1848 nur untergeordnete Fragen." -- An diesem ungeheuren Irrthum ist
d>e deutsche Bewegung gescheitert. Gewiß stimmen wir mit Gagern insofern
überein, daß das eigentlich so sein sollte, denn aller Erwerb der Freiheit, alle
Befestigung des Rechtszustandes sind völlig illusorisch, so lange nicht der Par-
ticularismus beseitigt wird, wie daS noch neuerdings das Beispiel Hannovers
ö'Ugt. man muß von der Masse des Volks, und diese kommt bei den
politischen Parteien in Betracht, nicht verlangen, daß sie mehr als das Nächst-
I'egende miteinander verknüpft. Die Bedrückungen von Seiten der Behörden
"der von Seiten der höhern Stände empfindet jedermann, so weit sie in seine
Sphäre gehören; jeder wünscht sie los zu werden und ist folglich bereit, sich
einer Partei anzuschließen, die ihm Abhilfe dieser Uebelstände verspricht. Aber
Weiter sehen kann nur der Gebildete; nur er begreift, daß Deutschland eine


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andern Sinn hat, als bei uns, so ist keiner der deutschen Staaten in jenen«
Sinn souverän und national, wie wir uns diese Begriffe nach dem Vorbild'
anderer Völker versinnlichen; aber der Grad dieses Mangels und folglich der
Grad der Sehnsucht nach Einheit ist in den verschiedenen Staaten verschieden,
am stärksten in den ganz kleinen Staaten, welche die Uebelstände der Klein¬
staaterei am lebhaftesten empfinden und keine gemeinsame Erinnerung, kein ge¬
meinsames Vorurtheil aufzuopfern haben. Was die Mittelstaaten betrifft, so
wird die Einheitspartei nur aus einem kleinen Theil der am freiesten gebildeten
Elasten beruhen; unter den übrigen werden sich mehr Gegner als Freunde
finden, namentlich wenn die Form der Einheit als Unterwerfung unter einen
fremden Volksstamm erscheint. Der Sachse, der Baier, der Würtenberger u. s. w,
hat ein eignes Selbstgefühl; sie alle empfinden die scheinbare Uebe'rlegenheit
des Preußen mit Unbehagen, und wenn man auch diese Befangenheit durch
Raisonnement überwindet, so wird daS daraus hervorgehende Resultat selten
stark genug sein, um das zu leisten, was Gagern von einer nationalen Er¬
hebung verlangt. Auf die Demokraten, die Aufrührer in Baden und Sachsen
konnte sich Preußen doch unmöglich stützen, und was die Sympathien der Ge¬
bildeten betrifft, so waren diese zu Ende des Jahres 4 830 wol noch vorhanden,
aber wenn das schreckliche Unglück eines Bürgerkriegs erfolgt wäre, so wäre
vermöge jener Gesinnungen kein einziger Soldat übergegangen. Wir bemerken
das alles, um folgenden Satz schärfer hervorzuheben: man überschätzt die Hilfe,
welche Preußen aus Kleindeutschland erlangen kann; Preußen kann sich nur
auf seine eigne Kraft stützen. Wie wichtig dieser Satz ist, wird sich im Folgen¬
den ergeben.

Der verhängnißvollste Irrthum in Bezug auf die Abschätzung der Kräfte
ist in folgendem Satz ausgedrückt: „Das Maß der politischen Freiheit, das
Verhältniß der gesellschaftlichen Stände zueinander, — nächste Ursachen der
Revolution in Frankreich, — waren bei der deutschen Bewegung des Jah-
n's -1848 nur untergeordnete Fragen." — An diesem ungeheuren Irrthum ist
d>e deutsche Bewegung gescheitert. Gewiß stimmen wir mit Gagern insofern
überein, daß das eigentlich so sein sollte, denn aller Erwerb der Freiheit, alle
Befestigung des Rechtszustandes sind völlig illusorisch, so lange nicht der Par-
ticularismus beseitigt wird, wie daS noch neuerdings das Beispiel Hannovers
ö'Ugt. man muß von der Masse des Volks, und diese kommt bei den
politischen Parteien in Betracht, nicht verlangen, daß sie mehr als das Nächst-
I'egende miteinander verknüpft. Die Bedrückungen von Seiten der Behörden
"der von Seiten der höhern Stände empfindet jedermann, so weit sie in seine
Sphäre gehören; jeder wünscht sie los zu werden und ist folglich bereit, sich
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[0297] andern Sinn hat, als bei uns, so ist keiner der deutschen Staaten in jenen« Sinn souverän und national, wie wir uns diese Begriffe nach dem Vorbild' anderer Völker versinnlichen; aber der Grad dieses Mangels und folglich der Grad der Sehnsucht nach Einheit ist in den verschiedenen Staaten verschieden, am stärksten in den ganz kleinen Staaten, welche die Uebelstände der Klein¬ staaterei am lebhaftesten empfinden und keine gemeinsame Erinnerung, kein ge¬ meinsames Vorurtheil aufzuopfern haben. Was die Mittelstaaten betrifft, so wird die Einheitspartei nur aus einem kleinen Theil der am freiesten gebildeten Elasten beruhen; unter den übrigen werden sich mehr Gegner als Freunde finden, namentlich wenn die Form der Einheit als Unterwerfung unter einen fremden Volksstamm erscheint. Der Sachse, der Baier, der Würtenberger u. s. w, hat ein eignes Selbstgefühl; sie alle empfinden die scheinbare Uebe'rlegenheit des Preußen mit Unbehagen, und wenn man auch diese Befangenheit durch Raisonnement überwindet, so wird daS daraus hervorgehende Resultat selten stark genug sein, um das zu leisten, was Gagern von einer nationalen Er¬ hebung verlangt. Auf die Demokraten, die Aufrührer in Baden und Sachsen konnte sich Preußen doch unmöglich stützen, und was die Sympathien der Ge¬ bildeten betrifft, so waren diese zu Ende des Jahres 4 830 wol noch vorhanden, aber wenn das schreckliche Unglück eines Bürgerkriegs erfolgt wäre, so wäre vermöge jener Gesinnungen kein einziger Soldat übergegangen. Wir bemerken das alles, um folgenden Satz schärfer hervorzuheben: man überschätzt die Hilfe, welche Preußen aus Kleindeutschland erlangen kann; Preußen kann sich nur auf seine eigne Kraft stützen. Wie wichtig dieser Satz ist, wird sich im Folgen¬ den ergeben. Der verhängnißvollste Irrthum in Bezug auf die Abschätzung der Kräfte ist in folgendem Satz ausgedrückt: „Das Maß der politischen Freiheit, das Verhältniß der gesellschaftlichen Stände zueinander, — nächste Ursachen der Revolution in Frankreich, — waren bei der deutschen Bewegung des Jah- n's -1848 nur untergeordnete Fragen." — An diesem ungeheuren Irrthum ist d>e deutsche Bewegung gescheitert. Gewiß stimmen wir mit Gagern insofern überein, daß das eigentlich so sein sollte, denn aller Erwerb der Freiheit, alle Befestigung des Rechtszustandes sind völlig illusorisch, so lange nicht der Par- ticularismus beseitigt wird, wie daS noch neuerdings das Beispiel Hannovers ö'Ugt. man muß von der Masse des Volks, und diese kommt bei den politischen Parteien in Betracht, nicht verlangen, daß sie mehr als das Nächst- I'egende miteinander verknüpft. Die Bedrückungen von Seiten der Behörden "der von Seiten der höhern Stände empfindet jedermann, so weit sie in seine Sphäre gehören; jeder wünscht sie los zu werden und ist folglich bereit, sich einer Partei anzuschließen, die ihm Abhilfe dieser Uebelstände verspricht. Aber Weiter sehen kann nur der Gebildete; nur er begreift, daß Deutschland eine Grenzboten. II. -I8S6. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/297>, abgerufen am 21.06.2024.