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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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sondern mit ihren Folgen, mit dem nöthigenden Druck auf die wahrscheinlich
widerstrebenden Regierungen. Der wiederholte Anspruch an die Bundesgenossen¬
schaft mit dem Geist der Nation mußte, wenn er nicht eine Phrase bleiben
sollte, auf etwas Anderes gerichtet sein, als auf eine blos moralische Unter¬
stützung..... Die preußischen Staatslenker haben während jener Bewegungs¬
jahre fort und fort darüber geschwankt, wie weit ein Druck der öffentlichen
Meinung auf die Entschließungen der Regierungen erlaubt sei/ und wo dieser
Druck in die Gewaltsamkeit oder die Revolution hinüberstreife; sie haben sich
die Möglichkeit von Vereinbarungen vorgespiegelt und über halbe Erfolge
heute triumphirt, die ihnen morgen unter den Händen zerrannen; sie haben
geschwankt zwischen dem Wunsch nach einer Volkserhebung zur Unterstützung
der noch schwachen Einflüsse und.der Furcht davor; zwischen der Anerkennung
der politischen und moralischen Berechtigtheit derselben und den Zweifeln an
deren Verträglichkeit mit dem Buchstaben der Gesetze und Verträge.....
Jede Resormbestrebung, die darauf gerichtet ist, den völkerrechtlichen Charak¬
ter des Bundes weiter zu alteriren und dem Bundesstaat näher zu bringen,
wird zur Frage der Macht, also der Gewalt, von oben oder von unten.
Vereinbarung darüber unter allen Betheiligten ist nicht denkbar. Selbst die
Vereinbarung, die heute unter dem Drang der Umstände zu Stande kommt,
wenn nicht zugleich durch neue Institutionen die Macht gebrochen wird, die
sie morgen widerrufen könnte, würde nur zur Vermehrung des Haders
und des Antagonismus der particularistischen Interessen führen." --

Erwägt man ernstlich diese gewichtigen Worte, welche den Kern der Sache
treffen, so begreift man, wie verhängnißvoll jede Täuschung über die Stärke
der Partei werden mußte, auf welche sich Preußen zu stützen hatte. Und dieser
Täuschung verfielen Gagern und sein Bruder in einer doppelten Beziehung:
einmal, indem sie aus dem Wunsch einer deutschen Einheit eine einheitliche
Parteirichtung hervorzurufen glaubten, zweitens, indem sie die Stärke der
Partei, welche die Einheit wollte, im Verhältniß zu der, welche die Freiheit
wollte, überschätzten.

Was das Erste betrifft, so drückt sich Heinrich von Gagern selbst sehr fein
darüber aus. "Die neueren Revolutionen anderer Völker waren auf Ver¬
änderung der Regierungsform oder auch nur des Regierungssystems in dem
gegebenen Staate gerichtet, dessen Umfang und Einheit nicht in Frage stand;
jede Deutschland gellende Umgestaltung dagegen müßte damit beginnen, erst den
Staat sammt seinem Mittelpunkt zu schaffen, in dem sie und für den sie vor
sich gehen soll. Der überraschenden Bewegung des Jahres 18i8 hatte mit
hinein für solche Zwecke genügend erörterten, geschweige denn zum Bewußtsein
der Nation gebrachten Gedanken: wie die Einigung so vieler getrennter StaatS-
vrganismen zu einem Staatsganzen erfolgen solle, vorgearbeitet werden können;


sondern mit ihren Folgen, mit dem nöthigenden Druck auf die wahrscheinlich
widerstrebenden Regierungen. Der wiederholte Anspruch an die Bundesgenossen¬
schaft mit dem Geist der Nation mußte, wenn er nicht eine Phrase bleiben
sollte, auf etwas Anderes gerichtet sein, als auf eine blos moralische Unter¬
stützung..... Die preußischen Staatslenker haben während jener Bewegungs¬
jahre fort und fort darüber geschwankt, wie weit ein Druck der öffentlichen
Meinung auf die Entschließungen der Regierungen erlaubt sei/ und wo dieser
Druck in die Gewaltsamkeit oder die Revolution hinüberstreife; sie haben sich
die Möglichkeit von Vereinbarungen vorgespiegelt und über halbe Erfolge
heute triumphirt, die ihnen morgen unter den Händen zerrannen; sie haben
geschwankt zwischen dem Wunsch nach einer Volkserhebung zur Unterstützung
der noch schwachen Einflüsse und.der Furcht davor; zwischen der Anerkennung
der politischen und moralischen Berechtigtheit derselben und den Zweifeln an
deren Verträglichkeit mit dem Buchstaben der Gesetze und Verträge.....
Jede Resormbestrebung, die darauf gerichtet ist, den völkerrechtlichen Charak¬
ter des Bundes weiter zu alteriren und dem Bundesstaat näher zu bringen,
wird zur Frage der Macht, also der Gewalt, von oben oder von unten.
Vereinbarung darüber unter allen Betheiligten ist nicht denkbar. Selbst die
Vereinbarung, die heute unter dem Drang der Umstände zu Stande kommt,
wenn nicht zugleich durch neue Institutionen die Macht gebrochen wird, die
sie morgen widerrufen könnte, würde nur zur Vermehrung des Haders
und des Antagonismus der particularistischen Interessen führen." —

Erwägt man ernstlich diese gewichtigen Worte, welche den Kern der Sache
treffen, so begreift man, wie verhängnißvoll jede Täuschung über die Stärke
der Partei werden mußte, auf welche sich Preußen zu stützen hatte. Und dieser
Täuschung verfielen Gagern und sein Bruder in einer doppelten Beziehung:
einmal, indem sie aus dem Wunsch einer deutschen Einheit eine einheitliche
Parteirichtung hervorzurufen glaubten, zweitens, indem sie die Stärke der
Partei, welche die Einheit wollte, im Verhältniß zu der, welche die Freiheit
wollte, überschätzten.

Was das Erste betrifft, so drückt sich Heinrich von Gagern selbst sehr fein
darüber aus. „Die neueren Revolutionen anderer Völker waren auf Ver¬
änderung der Regierungsform oder auch nur des Regierungssystems in dem
gegebenen Staate gerichtet, dessen Umfang und Einheit nicht in Frage stand;
jede Deutschland gellende Umgestaltung dagegen müßte damit beginnen, erst den
Staat sammt seinem Mittelpunkt zu schaffen, in dem sie und für den sie vor
sich gehen soll. Der überraschenden Bewegung des Jahres 18i8 hatte mit
hinein für solche Zwecke genügend erörterten, geschweige denn zum Bewußtsein
der Nation gebrachten Gedanken: wie die Einigung so vieler getrennter StaatS-
vrganismen zu einem Staatsganzen erfolgen solle, vorgearbeitet werden können;


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[0295] sondern mit ihren Folgen, mit dem nöthigenden Druck auf die wahrscheinlich widerstrebenden Regierungen. Der wiederholte Anspruch an die Bundesgenossen¬ schaft mit dem Geist der Nation mußte, wenn er nicht eine Phrase bleiben sollte, auf etwas Anderes gerichtet sein, als auf eine blos moralische Unter¬ stützung..... Die preußischen Staatslenker haben während jener Bewegungs¬ jahre fort und fort darüber geschwankt, wie weit ein Druck der öffentlichen Meinung auf die Entschließungen der Regierungen erlaubt sei/ und wo dieser Druck in die Gewaltsamkeit oder die Revolution hinüberstreife; sie haben sich die Möglichkeit von Vereinbarungen vorgespiegelt und über halbe Erfolge heute triumphirt, die ihnen morgen unter den Händen zerrannen; sie haben geschwankt zwischen dem Wunsch nach einer Volkserhebung zur Unterstützung der noch schwachen Einflüsse und.der Furcht davor; zwischen der Anerkennung der politischen und moralischen Berechtigtheit derselben und den Zweifeln an deren Verträglichkeit mit dem Buchstaben der Gesetze und Verträge..... Jede Resormbestrebung, die darauf gerichtet ist, den völkerrechtlichen Charak¬ ter des Bundes weiter zu alteriren und dem Bundesstaat näher zu bringen, wird zur Frage der Macht, also der Gewalt, von oben oder von unten. Vereinbarung darüber unter allen Betheiligten ist nicht denkbar. Selbst die Vereinbarung, die heute unter dem Drang der Umstände zu Stande kommt, wenn nicht zugleich durch neue Institutionen die Macht gebrochen wird, die sie morgen widerrufen könnte, würde nur zur Vermehrung des Haders und des Antagonismus der particularistischen Interessen führen." — Erwägt man ernstlich diese gewichtigen Worte, welche den Kern der Sache treffen, so begreift man, wie verhängnißvoll jede Täuschung über die Stärke der Partei werden mußte, auf welche sich Preußen zu stützen hatte. Und dieser Täuschung verfielen Gagern und sein Bruder in einer doppelten Beziehung: einmal, indem sie aus dem Wunsch einer deutschen Einheit eine einheitliche Parteirichtung hervorzurufen glaubten, zweitens, indem sie die Stärke der Partei, welche die Einheit wollte, im Verhältniß zu der, welche die Freiheit wollte, überschätzten. Was das Erste betrifft, so drückt sich Heinrich von Gagern selbst sehr fein darüber aus. „Die neueren Revolutionen anderer Völker waren auf Ver¬ änderung der Regierungsform oder auch nur des Regierungssystems in dem gegebenen Staate gerichtet, dessen Umfang und Einheit nicht in Frage stand; jede Deutschland gellende Umgestaltung dagegen müßte damit beginnen, erst den Staat sammt seinem Mittelpunkt zu schaffen, in dem sie und für den sie vor sich gehen soll. Der überraschenden Bewegung des Jahres 18i8 hatte mit hinein für solche Zwecke genügend erörterten, geschweige denn zum Bewußtsein der Nation gebrachten Gedanken: wie die Einigung so vieler getrennter StaatS- vrganismen zu einem Staatsganzen erfolgen solle, vorgearbeitet werden können;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/295>, abgerufen am 21.06.2024.