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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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alles Uebrige müsse mit der gewöhnlichen Ansicht Mereinstimmen. -- In dem
vorliegenden Buch erzählt uns nun Gagern gewissermaßen die Entwicklungs¬
geschichte seiner politischen Ueberzeugung, und dies ist der Ausdehnung wie den
Interessen nach der hervorragende Theil des ersten Bandes. -- Das Programm,
welches Heinrich von Gagern der Paulskirche 18i8 vorlegte, ist von seinem
Bruder Friedrich bereits 1823 aufgestellt worden, und dem nähern Umgang mit
diesem bedeutenden Mann verdankt der Führer unsrer Partei wenigstens zum
Theil die Anregung zu seinen eignen Ideen.

Wir behalten uns vor, beim Erscheinen der übrigen Bände das Charakter¬
bild Friedrichs von Gagern im Umriß nachzuzeichnen und bemerken liier nur, daß
es uns mit ebensoviel Freude als Bewunderung erfüllt hat. Für heute beschränken
wir uns auf dasjenige, was sich auf die deutsche Verfassungsgeschichte bezieht.

Am 17. Juli 1817 hielt Gagern der Vater in der Bundesversammlung
eine Rede, welche auf die Nothwendigkeit einer Entwicklung der Verfassung
aufmerksam machte, wenn sie auch optimistisch die Möglichkeit dieser Entwicklung
an die Bundesacte anknüpfte. Heinrich Luden machte in seiner Nemesis einen
heftigen Angriff gegen diese Rede, die er als volksfeindlich bezeichnete. Anders
verstand es> der Bund, dem Gagerns Anforderungen schon viel zu weit gingen.
Nicht lange darauf sah sich Gagern veranlaßt, sich vom öffentlichen Leben ganz
zurückzuziehen; er hat es aber verschmäht, die Rolle eines malcontenten Staats¬
manns zu spielen, er ist seinem Princip treu geblieben und hat den Fortschritt
Deutschlands lediglich in der allmäligen, aber aufrichtigen Verbesserung der
Bundesacte gesucht.

Anders sein Sohn Friedrich, der 1816, noch nicht 22 Jahre alt, als
niederländischer Hauptmann die Universität Heidelberg besuchte und namentlich
durch die philosophischen Vorträge von Fries angeregt wurde. Der junge
Mann erkannte schon damals, daß die Fehlerhaftigkeit im Princip lag. Mehre
Jahre hindurch blieb er den deutschen Angelegenheiten fremd und vermied es,
mit seinem Vater zu rechten; aber er neigte sich immer mehr zu der Ueber¬
zeugung, daß auf dem Wege der friedlichen Entwicklung des Bundes durch die
Gesetzgebung eine Besserung nicht zu hoffen sei. Da er davon ausging, daß
es den leitenden Cabineten nicht an der Einsicht, sondern an dem Willen oder
der Macht gebreche, die Zustände zu bessern', so begriff er nicht, wie der Vater
sich noch bei der Sisyphusarbeit aufhalten könne, die Entwicklungsfähigkeit
des Bundes beweisen zu wollen, da jeder Tag neue Steine von dem Gerüste
dieser Entwicklungsfähigkeit als unbrauchbare, gefährliche und ausgestoßene der
Tiefe unwiederbringlich zurollen sah.*) -- Im Jahr 1823 setzte er in einem



*) ..Wie wird das enden?" fragte er -1823 seinen Vater bei einer ernsthaften Krisis-
"Doch darauf kann ich mir selbst antworten, denn in Deutschland versteht man eS ja, mit Ge¬
lassenheit zu verzweifeln." --

alles Uebrige müsse mit der gewöhnlichen Ansicht Mereinstimmen. — In dem
vorliegenden Buch erzählt uns nun Gagern gewissermaßen die Entwicklungs¬
geschichte seiner politischen Ueberzeugung, und dies ist der Ausdehnung wie den
Interessen nach der hervorragende Theil des ersten Bandes. — Das Programm,
welches Heinrich von Gagern der Paulskirche 18i8 vorlegte, ist von seinem
Bruder Friedrich bereits 1823 aufgestellt worden, und dem nähern Umgang mit
diesem bedeutenden Mann verdankt der Führer unsrer Partei wenigstens zum
Theil die Anregung zu seinen eignen Ideen.

Wir behalten uns vor, beim Erscheinen der übrigen Bände das Charakter¬
bild Friedrichs von Gagern im Umriß nachzuzeichnen und bemerken liier nur, daß
es uns mit ebensoviel Freude als Bewunderung erfüllt hat. Für heute beschränken
wir uns auf dasjenige, was sich auf die deutsche Verfassungsgeschichte bezieht.

Am 17. Juli 1817 hielt Gagern der Vater in der Bundesversammlung
eine Rede, welche auf die Nothwendigkeit einer Entwicklung der Verfassung
aufmerksam machte, wenn sie auch optimistisch die Möglichkeit dieser Entwicklung
an die Bundesacte anknüpfte. Heinrich Luden machte in seiner Nemesis einen
heftigen Angriff gegen diese Rede, die er als volksfeindlich bezeichnete. Anders
verstand es> der Bund, dem Gagerns Anforderungen schon viel zu weit gingen.
Nicht lange darauf sah sich Gagern veranlaßt, sich vom öffentlichen Leben ganz
zurückzuziehen; er hat es aber verschmäht, die Rolle eines malcontenten Staats¬
manns zu spielen, er ist seinem Princip treu geblieben und hat den Fortschritt
Deutschlands lediglich in der allmäligen, aber aufrichtigen Verbesserung der
Bundesacte gesucht.

Anders sein Sohn Friedrich, der 1816, noch nicht 22 Jahre alt, als
niederländischer Hauptmann die Universität Heidelberg besuchte und namentlich
durch die philosophischen Vorträge von Fries angeregt wurde. Der junge
Mann erkannte schon damals, daß die Fehlerhaftigkeit im Princip lag. Mehre
Jahre hindurch blieb er den deutschen Angelegenheiten fremd und vermied es,
mit seinem Vater zu rechten; aber er neigte sich immer mehr zu der Ueber¬
zeugung, daß auf dem Wege der friedlichen Entwicklung des Bundes durch die
Gesetzgebung eine Besserung nicht zu hoffen sei. Da er davon ausging, daß
es den leitenden Cabineten nicht an der Einsicht, sondern an dem Willen oder
der Macht gebreche, die Zustände zu bessern', so begriff er nicht, wie der Vater
sich noch bei der Sisyphusarbeit aufhalten könne, die Entwicklungsfähigkeit
des Bundes beweisen zu wollen, da jeder Tag neue Steine von dem Gerüste
dieser Entwicklungsfähigkeit als unbrauchbare, gefährliche und ausgestoßene der
Tiefe unwiederbringlich zurollen sah.*) — Im Jahr 1823 setzte er in einem



*) ..Wie wird das enden?" fragte er -1823 seinen Vater bei einer ernsthaften Krisis-
„Doch darauf kann ich mir selbst antworten, denn in Deutschland versteht man eS ja, mit Ge¬
lassenheit zu verzweifeln." —
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[0292] alles Uebrige müsse mit der gewöhnlichen Ansicht Mereinstimmen. — In dem vorliegenden Buch erzählt uns nun Gagern gewissermaßen die Entwicklungs¬ geschichte seiner politischen Ueberzeugung, und dies ist der Ausdehnung wie den Interessen nach der hervorragende Theil des ersten Bandes. — Das Programm, welches Heinrich von Gagern der Paulskirche 18i8 vorlegte, ist von seinem Bruder Friedrich bereits 1823 aufgestellt worden, und dem nähern Umgang mit diesem bedeutenden Mann verdankt der Führer unsrer Partei wenigstens zum Theil die Anregung zu seinen eignen Ideen. Wir behalten uns vor, beim Erscheinen der übrigen Bände das Charakter¬ bild Friedrichs von Gagern im Umriß nachzuzeichnen und bemerken liier nur, daß es uns mit ebensoviel Freude als Bewunderung erfüllt hat. Für heute beschränken wir uns auf dasjenige, was sich auf die deutsche Verfassungsgeschichte bezieht. Am 17. Juli 1817 hielt Gagern der Vater in der Bundesversammlung eine Rede, welche auf die Nothwendigkeit einer Entwicklung der Verfassung aufmerksam machte, wenn sie auch optimistisch die Möglichkeit dieser Entwicklung an die Bundesacte anknüpfte. Heinrich Luden machte in seiner Nemesis einen heftigen Angriff gegen diese Rede, die er als volksfeindlich bezeichnete. Anders verstand es> der Bund, dem Gagerns Anforderungen schon viel zu weit gingen. Nicht lange darauf sah sich Gagern veranlaßt, sich vom öffentlichen Leben ganz zurückzuziehen; er hat es aber verschmäht, die Rolle eines malcontenten Staats¬ manns zu spielen, er ist seinem Princip treu geblieben und hat den Fortschritt Deutschlands lediglich in der allmäligen, aber aufrichtigen Verbesserung der Bundesacte gesucht. Anders sein Sohn Friedrich, der 1816, noch nicht 22 Jahre alt, als niederländischer Hauptmann die Universität Heidelberg besuchte und namentlich durch die philosophischen Vorträge von Fries angeregt wurde. Der junge Mann erkannte schon damals, daß die Fehlerhaftigkeit im Princip lag. Mehre Jahre hindurch blieb er den deutschen Angelegenheiten fremd und vermied es, mit seinem Vater zu rechten; aber er neigte sich immer mehr zu der Ueber¬ zeugung, daß auf dem Wege der friedlichen Entwicklung des Bundes durch die Gesetzgebung eine Besserung nicht zu hoffen sei. Da er davon ausging, daß es den leitenden Cabineten nicht an der Einsicht, sondern an dem Willen oder der Macht gebreche, die Zustände zu bessern', so begriff er nicht, wie der Vater sich noch bei der Sisyphusarbeit aufhalten könne, die Entwicklungsfähigkeit des Bundes beweisen zu wollen, da jeder Tag neue Steine von dem Gerüste dieser Entwicklungsfähigkeit als unbrauchbare, gefährliche und ausgestoßene der Tiefe unwiederbringlich zurollen sah.*) — Im Jahr 1823 setzte er in einem *) ..Wie wird das enden?" fragte er -1823 seinen Vater bei einer ernsthaften Krisis- „Doch darauf kann ich mir selbst antworten, denn in Deutschland versteht man eS ja, mit Ge¬ lassenheit zu verzweifeln." —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/292>, abgerufen am 21.06.2024.