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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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diesem Glauben hielt man seine eignen Hoffnungen und Wünsche für gerecht¬
fertigt. Die Nationalversammlung war gemäßigt in dem Inhalt ihrer Forde¬
rungen, aber um so rückhaltloser in der Form. Wer hätte bei so viel Selbst¬
gefühl daran zweifeln sollen, daß auch das Unmögliche erreicht werden könne!

Zuerst kam nun die Einsicht, daß Gagern nicht in dem Sinn der voll¬
ständige Ausdruck der Nationalversammlung sei, wie man es sich ursprünglich
gedacht. Selbst von der spätern Weidenbuschpartei hatten sich wol die meisten
unter der Einheit Deutschlands etwas ganz Andres vorgestellt, als nun daraus
werden sollte, oder um unsre Meinung offen auszusprechen, die meisten hatten
sich gar nichts dabei gedacht. Nun sprach Gagern mit der ganzen Wucht seiner
Persönlichkeit, wie er es früher gethan, das nothwendige Ziel, den nothwendigen
Weg aus; aber was er aussprach, war zum ersten Mal nicht mehr der Aus¬
druck für das allgemeine Vorurtheil. Man erschrak, man wurde bedenklich, in
der Hitze des Streits wurde die frühere Rücksicht vergessen. Indeß das
alles hätte sich ausgeglichen, aber das Zi5l wurde nicht erreicht. Wenn auch
nur eine kleine Majorität der Nationalversammlung unter der leidenschaftlichen
Opposition aller übrigen Mitglieder den letzten entscheidenden Beschluß faßte,
es war doch die Nationalversammlung, deren Ehre an seine Durchführung ge¬
bunden war. Durch eigne Kraft konnte sie ihren Entschluß nicht durchführen,
und die Macht, die sie anrief, verschmähte die Mitwirkung. Der Glaube an
die Allmacht der Nationalversammlung hatte sich als illusorisch erwiesen; und
da dieser Glaube an Gagerns Persönlichkeit gekettet war, so machte man ihn
dafür verantwortlich. Kein einziges Mitglied des Rumpfparlaments war noch
in den alten Illusionen befangen, aber -- man hatte sich an dramatische
Actionen gewöhnt und verlangte von seinen Helden die Konsequenz der Rolle.
Gagern verschmähte es, ernsthafte Angelegenheiten nach dem Maßstab einer
dramatischen Composition zu betrachten und zerstörte damit den letzten Nimbus.
Ueberglücklich, eine Persönlichkeit gefunden zu haben, der man eine Schuld,
die nur die Umstände traf, aufbürden konnte, versicherte die Demokratie der
Paulskirche, es habe nur an Gagern gelegen, die Allmacht der Nationalver¬
sammlung zu bethätigen; aber-er habe sie verrathen. Eine Verblendung, die
nur durch den Rausch jener Tage zu erklären ist, die aber heut auch der leiden¬
schaftlichste Demokrat nicht mehr rechtfertigen möchte.

Heinrich von Gagern hatte das Bild von der Erneuerung Deutschlands,
wje er es durch die Weidenbuschpartei durchzusetzen hoffte, nicht erst in der
Paulskirche entworfen; es war der Leitstern seines Lebens gewesen. Wer die
Rede, die er noch vor Eröffnung des Parlaments in Darmstadt hielt, aufmerk¬
sam ansah, konnte nicht daran zweifeln. Aber damals dachte niemand daran,
irgend etwas aufmerksam zu lesen. Wenn nur die geläufigen Stichwörter Ein¬
heit, Freiheit u. tgi. darin vorkamen, so war man fest davon überzeugt, auch


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diesem Glauben hielt man seine eignen Hoffnungen und Wünsche für gerecht¬
fertigt. Die Nationalversammlung war gemäßigt in dem Inhalt ihrer Forde¬
rungen, aber um so rückhaltloser in der Form. Wer hätte bei so viel Selbst¬
gefühl daran zweifeln sollen, daß auch das Unmögliche erreicht werden könne!

Zuerst kam nun die Einsicht, daß Gagern nicht in dem Sinn der voll¬
ständige Ausdruck der Nationalversammlung sei, wie man es sich ursprünglich
gedacht. Selbst von der spätern Weidenbuschpartei hatten sich wol die meisten
unter der Einheit Deutschlands etwas ganz Andres vorgestellt, als nun daraus
werden sollte, oder um unsre Meinung offen auszusprechen, die meisten hatten
sich gar nichts dabei gedacht. Nun sprach Gagern mit der ganzen Wucht seiner
Persönlichkeit, wie er es früher gethan, das nothwendige Ziel, den nothwendigen
Weg aus; aber was er aussprach, war zum ersten Mal nicht mehr der Aus¬
druck für das allgemeine Vorurtheil. Man erschrak, man wurde bedenklich, in
der Hitze des Streits wurde die frühere Rücksicht vergessen. Indeß das
alles hätte sich ausgeglichen, aber das Zi5l wurde nicht erreicht. Wenn auch
nur eine kleine Majorität der Nationalversammlung unter der leidenschaftlichen
Opposition aller übrigen Mitglieder den letzten entscheidenden Beschluß faßte,
es war doch die Nationalversammlung, deren Ehre an seine Durchführung ge¬
bunden war. Durch eigne Kraft konnte sie ihren Entschluß nicht durchführen,
und die Macht, die sie anrief, verschmähte die Mitwirkung. Der Glaube an
die Allmacht der Nationalversammlung hatte sich als illusorisch erwiesen; und
da dieser Glaube an Gagerns Persönlichkeit gekettet war, so machte man ihn
dafür verantwortlich. Kein einziges Mitglied des Rumpfparlaments war noch
in den alten Illusionen befangen, aber — man hatte sich an dramatische
Actionen gewöhnt und verlangte von seinen Helden die Konsequenz der Rolle.
Gagern verschmähte es, ernsthafte Angelegenheiten nach dem Maßstab einer
dramatischen Composition zu betrachten und zerstörte damit den letzten Nimbus.
Ueberglücklich, eine Persönlichkeit gefunden zu haben, der man eine Schuld,
die nur die Umstände traf, aufbürden konnte, versicherte die Demokratie der
Paulskirche, es habe nur an Gagern gelegen, die Allmacht der Nationalver¬
sammlung zu bethätigen; aber-er habe sie verrathen. Eine Verblendung, die
nur durch den Rausch jener Tage zu erklären ist, die aber heut auch der leiden¬
schaftlichste Demokrat nicht mehr rechtfertigen möchte.

Heinrich von Gagern hatte das Bild von der Erneuerung Deutschlands,
wje er es durch die Weidenbuschpartei durchzusetzen hoffte, nicht erst in der
Paulskirche entworfen; es war der Leitstern seines Lebens gewesen. Wer die
Rede, die er noch vor Eröffnung des Parlaments in Darmstadt hielt, aufmerk¬
sam ansah, konnte nicht daran zweifeln. Aber damals dachte niemand daran,
irgend etwas aufmerksam zu lesen. Wenn nur die geläufigen Stichwörter Ein¬
heit, Freiheit u. tgi. darin vorkamen, so war man fest davon überzeugt, auch


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[0291] diesem Glauben hielt man seine eignen Hoffnungen und Wünsche für gerecht¬ fertigt. Die Nationalversammlung war gemäßigt in dem Inhalt ihrer Forde¬ rungen, aber um so rückhaltloser in der Form. Wer hätte bei so viel Selbst¬ gefühl daran zweifeln sollen, daß auch das Unmögliche erreicht werden könne! Zuerst kam nun die Einsicht, daß Gagern nicht in dem Sinn der voll¬ ständige Ausdruck der Nationalversammlung sei, wie man es sich ursprünglich gedacht. Selbst von der spätern Weidenbuschpartei hatten sich wol die meisten unter der Einheit Deutschlands etwas ganz Andres vorgestellt, als nun daraus werden sollte, oder um unsre Meinung offen auszusprechen, die meisten hatten sich gar nichts dabei gedacht. Nun sprach Gagern mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit, wie er es früher gethan, das nothwendige Ziel, den nothwendigen Weg aus; aber was er aussprach, war zum ersten Mal nicht mehr der Aus¬ druck für das allgemeine Vorurtheil. Man erschrak, man wurde bedenklich, in der Hitze des Streits wurde die frühere Rücksicht vergessen. Indeß das alles hätte sich ausgeglichen, aber das Zi5l wurde nicht erreicht. Wenn auch nur eine kleine Majorität der Nationalversammlung unter der leidenschaftlichen Opposition aller übrigen Mitglieder den letzten entscheidenden Beschluß faßte, es war doch die Nationalversammlung, deren Ehre an seine Durchführung ge¬ bunden war. Durch eigne Kraft konnte sie ihren Entschluß nicht durchführen, und die Macht, die sie anrief, verschmähte die Mitwirkung. Der Glaube an die Allmacht der Nationalversammlung hatte sich als illusorisch erwiesen; und da dieser Glaube an Gagerns Persönlichkeit gekettet war, so machte man ihn dafür verantwortlich. Kein einziges Mitglied des Rumpfparlaments war noch in den alten Illusionen befangen, aber — man hatte sich an dramatische Actionen gewöhnt und verlangte von seinen Helden die Konsequenz der Rolle. Gagern verschmähte es, ernsthafte Angelegenheiten nach dem Maßstab einer dramatischen Composition zu betrachten und zerstörte damit den letzten Nimbus. Ueberglücklich, eine Persönlichkeit gefunden zu haben, der man eine Schuld, die nur die Umstände traf, aufbürden konnte, versicherte die Demokratie der Paulskirche, es habe nur an Gagern gelegen, die Allmacht der Nationalver¬ sammlung zu bethätigen; aber-er habe sie verrathen. Eine Verblendung, die nur durch den Rausch jener Tage zu erklären ist, die aber heut auch der leiden¬ schaftlichste Demokrat nicht mehr rechtfertigen möchte. Heinrich von Gagern hatte das Bild von der Erneuerung Deutschlands, wje er es durch die Weidenbuschpartei durchzusetzen hoffte, nicht erst in der Paulskirche entworfen; es war der Leitstern seines Lebens gewesen. Wer die Rede, die er noch vor Eröffnung des Parlaments in Darmstadt hielt, aufmerk¬ sam ansah, konnte nicht daran zweifeln. Aber damals dachte niemand daran, irgend etwas aufmerksam zu lesen. Wenn nur die geläufigen Stichwörter Ein¬ heit, Freiheit u. tgi. darin vorkamen, so war man fest davon überzeugt, auch 36*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/291>, abgerufen am 21.06.2024.