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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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wandert sind, und denen daher bei zwei Dichtern, deren Bekanntschaft sie zu¬
fällig machen, eine Ähnlichkeit auffällt, die vielleicht die gemeinsame Eigenschaft
von hundert Dichtern ist. Was den Esser betrifft, so sind alle Combinationen
dieses Stoffs bereits so vollständig erschöpft, daß, wer etwas ganz Neues geben
wollte, gradezu Unsinn geben müßte. Laube hat uns über die Genesis seines
Stücks vollkommen richtig aufgeklärt. Er hat frühere Behandlungen des
Stoffs zunächst vom Standpunkt eines Theaterdirectorö betrachtet, es sind ihm
erhebliche Verstöße gegen das Gesetz des Dramas und des Theaters darin auf¬
gestoßen, und da er zugleich dramatischer Dichter ist, so hat sich in seinem
Gemüth die ganze Fabel auf eine neue Weise krystallisirt, und er ist an eine
neue Bearbeitung gegangen. Aus dieser Methode wird zwar selten ein Drama
ersten Ranges hervorgehen, aber sie ist vollkommen berechtigt. Shakespeare hat
es- häufig nicht anders gemacht, und wie Goethe und Schiller, darüber dachten,
kann man in den dramaturgischen Blättern des erstern nachlesen. Es kommt
nur darauf an, daß der Dichter die vorgefundenen Motive nicht mosaikartig
zusammenklebe, sondern sie organisch durcharbeitet, und das ist sowol im Esser
als im Fechter von Ravenna geschehen. Wer den Fechter von Ravenna auf¬
merksam anhörte, konnte an dem Dichter nicht zweifeln, wie wir denn auch
augenblicklich ausgesprochen haben, kein anderer als Halm könne der Verfasser
sein. Ebenso ist es mit dem Esser. Laube hat einen sehr prononcirten Stil,
eine sehr deutlich zu unterscheidende Methode der Scenirung und Charakteristik,
und diese wird man hier auf jeder Seite herauserkennen. Das Drama ge¬
hört ihm ganz und gar an, so wie der Fechter von Ravenna ganz Halm an¬
gehört, und wenn beide Dichter durch eine frühere Lectüre, die sie nachher ganz
vergessen haben, wirklich zu einzelnen Motiven angeregt sind, so will daS um
so weniger sagen, da sie auch in diesem Fall jene Stücke unendlich verbessert
haben und da die Motive mit Nothwendigkeit in ihren Zusammenhang ge¬
hören. Aber es ist auch sehr möglich, daß das gar nicht geschehen ist. Der
Zufall spielt darin häufig eine ganz sonderbare Rolle, oder vielmehr die Bil¬
dung, der Geschmack und die Neigung einer Zeit prägt sich in den verschiedenen
Individuen, wenn nicht ganz besonoere Umstände dazwischen treten, so gleich¬
mäßig aus, daß der nämliche Stoff auch die nämlichen Erfindungen nach sich
zieht. -- Bei der unerträglichen Dürre unsres jetzigen Theaters wäre sehr die
Frage/ ob man nicht den Plan Goethes und Schillers wieder aufnehmen
sollte, alte vergessene Stücke durch sreie zeitgemäße Bearbeitung wieder auf das
Repertoir zu bringen. Mit Stücken, die zur Zeit der Tantieme geschrieben sind,
geht das freilich nicht, und Dichter, die einen mit Recht oder Unrecht gefeierten
Namen haben, würden sich dergleichen auch verbitten; aber die Manen todter
oder vergessener Poeten hätten doch kein Recht zur Empörung. So sind z. B. >n
den kotzebueschen Lustspielen eine Reihe vortrefflicher, namentlich höchst wirt-


wandert sind, und denen daher bei zwei Dichtern, deren Bekanntschaft sie zu¬
fällig machen, eine Ähnlichkeit auffällt, die vielleicht die gemeinsame Eigenschaft
von hundert Dichtern ist. Was den Esser betrifft, so sind alle Combinationen
dieses Stoffs bereits so vollständig erschöpft, daß, wer etwas ganz Neues geben
wollte, gradezu Unsinn geben müßte. Laube hat uns über die Genesis seines
Stücks vollkommen richtig aufgeklärt. Er hat frühere Behandlungen des
Stoffs zunächst vom Standpunkt eines Theaterdirectorö betrachtet, es sind ihm
erhebliche Verstöße gegen das Gesetz des Dramas und des Theaters darin auf¬
gestoßen, und da er zugleich dramatischer Dichter ist, so hat sich in seinem
Gemüth die ganze Fabel auf eine neue Weise krystallisirt, und er ist an eine
neue Bearbeitung gegangen. Aus dieser Methode wird zwar selten ein Drama
ersten Ranges hervorgehen, aber sie ist vollkommen berechtigt. Shakespeare hat
es- häufig nicht anders gemacht, und wie Goethe und Schiller, darüber dachten,
kann man in den dramaturgischen Blättern des erstern nachlesen. Es kommt
nur darauf an, daß der Dichter die vorgefundenen Motive nicht mosaikartig
zusammenklebe, sondern sie organisch durcharbeitet, und das ist sowol im Esser
als im Fechter von Ravenna geschehen. Wer den Fechter von Ravenna auf¬
merksam anhörte, konnte an dem Dichter nicht zweifeln, wie wir denn auch
augenblicklich ausgesprochen haben, kein anderer als Halm könne der Verfasser
sein. Ebenso ist es mit dem Esser. Laube hat einen sehr prononcirten Stil,
eine sehr deutlich zu unterscheidende Methode der Scenirung und Charakteristik,
und diese wird man hier auf jeder Seite herauserkennen. Das Drama ge¬
hört ihm ganz und gar an, so wie der Fechter von Ravenna ganz Halm an¬
gehört, und wenn beide Dichter durch eine frühere Lectüre, die sie nachher ganz
vergessen haben, wirklich zu einzelnen Motiven angeregt sind, so will daS um
so weniger sagen, da sie auch in diesem Fall jene Stücke unendlich verbessert
haben und da die Motive mit Nothwendigkeit in ihren Zusammenhang ge¬
hören. Aber es ist auch sehr möglich, daß das gar nicht geschehen ist. Der
Zufall spielt darin häufig eine ganz sonderbare Rolle, oder vielmehr die Bil¬
dung, der Geschmack und die Neigung einer Zeit prägt sich in den verschiedenen
Individuen, wenn nicht ganz besonoere Umstände dazwischen treten, so gleich¬
mäßig aus, daß der nämliche Stoff auch die nämlichen Erfindungen nach sich
zieht. — Bei der unerträglichen Dürre unsres jetzigen Theaters wäre sehr die
Frage/ ob man nicht den Plan Goethes und Schillers wieder aufnehmen
sollte, alte vergessene Stücke durch sreie zeitgemäße Bearbeitung wieder auf das
Repertoir zu bringen. Mit Stücken, die zur Zeit der Tantieme geschrieben sind,
geht das freilich nicht, und Dichter, die einen mit Recht oder Unrecht gefeierten
Namen haben, würden sich dergleichen auch verbitten; aber die Manen todter
oder vergessener Poeten hätten doch kein Recht zur Empörung. So sind z. B. >n
den kotzebueschen Lustspielen eine Reihe vortrefflicher, namentlich höchst wirt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/272>, abgerufen am 21.06.2024.