Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Spitze. Hat doch neuerdings ein Anhänger dieser Theorie den Antrag
gestellt, die Ehe überhaupt von der obrigkeitlichen Erlaubniß abhängig zu
machen. So lange noch diese büreaukratische Voraussetzung, daß der Staat
immer besser wissen müsse, was dem Einzelnen frommt, als der Einzelne selbst,
in den Köpfen unsrer Gesetzgeber spukt, wird der sogenannte organische Natur¬
wuchs des Staats, den die sogenannte historische Schule zu vertreten behauptet,
eine leere Chimäre bleiben.




Theater.

Graf Esser. Trauerspiel in fünf Acten von Heinrich Laube,
als Manuscript gedruckt. -- Wir wollen das Drama, welches jetzt fast überall
durch die Aufführung bekannt ist, nicht ausführlich besprechen. Der Dichter
hat auch dies Mal wieder sein Verständniß der theatralischen Mittel auf eine
glänzende Weise bethätigt; er hat auch dies Mal wieder darin fehlgegriffen,
daß er mit diesen Mitteln einen zu großen Aufwand treibt. Namentlich zeigt
sich das im letzten Act, wo die eigentliche Spannung vorüber ist und die
pathologische Entwicklung der tödtlich verletzten Gemüther beginnt. Die zweite
Auflage der Ophelia hätte sich der Dichter wol ersparen mögen. In der un¬
endlichen Reihe von Dramen, welche diesen wunderlichen Stoff behandeln, be¬
hauptet das laubesche einen ehrenvollen Platz. Wir können uns zwar nicht
rühmen, alle diese Versuche gelesen zu haben, aber doch einen ziemlich großen
Theil (noch neuerdings außer dem werlherschen Concurrenzstück das Drama
eines jungen Dichters , Lohmann). Wir nennen den Stoff wunderlich, weil
"ach unsrer Ueberzeugung eine verliebte alte Frau, mag es auch die Königin
Elisabeth sein, höchstens ins Lustspiel gehört, denn als tragisches Motiv be¬
nutzt macht sich die Unnatur der Situation auf eine' beleidigende Weise geltend.
Zudem kommt für unsern neuern Dichter noch die Schwierigkeit einer Concur-
renz mit Schiller. Schiller hat sehr weise das Alter der Königin ziemlich un¬
bestimmt gelassen; einem Dichter des Esser dagegen ist das nicht möglich, denn
in diesem Punkt würde ihn jeder Schüler corrigiren. -- Wir wollen das Drama
vorzugsweise dazu benutzen, nachträglich auf eine große literarische Fehde ein--
zugehen, die wir bisher ignorirt haben, weil sie uns gar zu abgeschmackt vor¬
kam. Laube selbst hatte in der Bachert-Werther-Frage den Fehler gemacht, eine
literarische Deduction zu geben, wo man eine einfache amtliche Erklärung er¬
wartet hat; aber die Deduction an sich war vollkommen richtig. Die Jagd
Nach Plagiaten und Reminiscenzen geht im Theater wie in der Musik haupt¬
sächlich von solchen aus, die in der einschlagenden Literatur sehr wenig be-


der Spitze. Hat doch neuerdings ein Anhänger dieser Theorie den Antrag
gestellt, die Ehe überhaupt von der obrigkeitlichen Erlaubniß abhängig zu
machen. So lange noch diese büreaukratische Voraussetzung, daß der Staat
immer besser wissen müsse, was dem Einzelnen frommt, als der Einzelne selbst,
in den Köpfen unsrer Gesetzgeber spukt, wird der sogenannte organische Natur¬
wuchs des Staats, den die sogenannte historische Schule zu vertreten behauptet,
eine leere Chimäre bleiben.




Theater.

Graf Esser. Trauerspiel in fünf Acten von Heinrich Laube,
als Manuscript gedruckt. — Wir wollen das Drama, welches jetzt fast überall
durch die Aufführung bekannt ist, nicht ausführlich besprechen. Der Dichter
hat auch dies Mal wieder sein Verständniß der theatralischen Mittel auf eine
glänzende Weise bethätigt; er hat auch dies Mal wieder darin fehlgegriffen,
daß er mit diesen Mitteln einen zu großen Aufwand treibt. Namentlich zeigt
sich das im letzten Act, wo die eigentliche Spannung vorüber ist und die
pathologische Entwicklung der tödtlich verletzten Gemüther beginnt. Die zweite
Auflage der Ophelia hätte sich der Dichter wol ersparen mögen. In der un¬
endlichen Reihe von Dramen, welche diesen wunderlichen Stoff behandeln, be¬
hauptet das laubesche einen ehrenvollen Platz. Wir können uns zwar nicht
rühmen, alle diese Versuche gelesen zu haben, aber doch einen ziemlich großen
Theil (noch neuerdings außer dem werlherschen Concurrenzstück das Drama
eines jungen Dichters , Lohmann). Wir nennen den Stoff wunderlich, weil
»ach unsrer Ueberzeugung eine verliebte alte Frau, mag es auch die Königin
Elisabeth sein, höchstens ins Lustspiel gehört, denn als tragisches Motiv be¬
nutzt macht sich die Unnatur der Situation auf eine' beleidigende Weise geltend.
Zudem kommt für unsern neuern Dichter noch die Schwierigkeit einer Concur-
renz mit Schiller. Schiller hat sehr weise das Alter der Königin ziemlich un¬
bestimmt gelassen; einem Dichter des Esser dagegen ist das nicht möglich, denn
in diesem Punkt würde ihn jeder Schüler corrigiren. — Wir wollen das Drama
vorzugsweise dazu benutzen, nachträglich auf eine große literarische Fehde ein--
zugehen, die wir bisher ignorirt haben, weil sie uns gar zu abgeschmackt vor¬
kam. Laube selbst hatte in der Bachert-Werther-Frage den Fehler gemacht, eine
literarische Deduction zu geben, wo man eine einfache amtliche Erklärung er¬
wartet hat; aber die Deduction an sich war vollkommen richtig. Die Jagd
Nach Plagiaten und Reminiscenzen geht im Theater wie in der Musik haupt¬
sächlich von solchen aus, die in der einschlagenden Literatur sehr wenig be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0271" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101798"/>
          <p xml:id="ID_695" prev="#ID_694"> der Spitze. Hat doch neuerdings ein Anhänger dieser Theorie den Antrag<lb/>
gestellt, die Ehe überhaupt von der obrigkeitlichen Erlaubniß abhängig zu<lb/>
machen. So lange noch diese büreaukratische Voraussetzung, daß der Staat<lb/>
immer besser wissen müsse, was dem Einzelnen frommt, als der Einzelne selbst,<lb/>
in den Köpfen unsrer Gesetzgeber spukt, wird der sogenannte organische Natur¬<lb/>
wuchs des Staats, den die sogenannte historische Schule zu vertreten behauptet,<lb/>
eine leere Chimäre bleiben.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Theater.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_696" next="#ID_697"> Graf Esser. Trauerspiel in fünf Acten von Heinrich Laube,<lb/>
als Manuscript gedruckt. &#x2014; Wir wollen das Drama, welches jetzt fast überall<lb/>
durch die Aufführung bekannt ist, nicht ausführlich besprechen. Der Dichter<lb/>
hat auch dies Mal wieder sein Verständniß der theatralischen Mittel auf eine<lb/>
glänzende Weise bethätigt; er hat auch dies Mal wieder darin fehlgegriffen,<lb/>
daß er mit diesen Mitteln einen zu großen Aufwand treibt. Namentlich zeigt<lb/>
sich das im letzten Act, wo die eigentliche Spannung vorüber ist und die<lb/>
pathologische Entwicklung der tödtlich verletzten Gemüther beginnt. Die zweite<lb/>
Auflage der Ophelia hätte sich der Dichter wol ersparen mögen. In der un¬<lb/>
endlichen Reihe von Dramen, welche diesen wunderlichen Stoff behandeln, be¬<lb/>
hauptet das laubesche einen ehrenvollen Platz. Wir können uns zwar nicht<lb/>
rühmen, alle diese Versuche gelesen zu haben, aber doch einen ziemlich großen<lb/>
Theil (noch neuerdings außer dem werlherschen Concurrenzstück das Drama<lb/>
eines jungen Dichters , Lohmann). Wir nennen den Stoff wunderlich, weil<lb/>
»ach unsrer Ueberzeugung eine verliebte alte Frau, mag es auch die Königin<lb/>
Elisabeth sein, höchstens ins Lustspiel gehört, denn als tragisches Motiv be¬<lb/>
nutzt macht sich die Unnatur der Situation auf eine' beleidigende Weise geltend.<lb/>
Zudem kommt für unsern neuern Dichter noch die Schwierigkeit einer Concur-<lb/>
renz mit Schiller. Schiller hat sehr weise das Alter der Königin ziemlich un¬<lb/>
bestimmt gelassen; einem Dichter des Esser dagegen ist das nicht möglich, denn<lb/>
in diesem Punkt würde ihn jeder Schüler corrigiren. &#x2014; Wir wollen das Drama<lb/>
vorzugsweise dazu benutzen, nachträglich auf eine große literarische Fehde ein--<lb/>
zugehen, die wir bisher ignorirt haben, weil sie uns gar zu abgeschmackt vor¬<lb/>
kam. Laube selbst hatte in der Bachert-Werther-Frage den Fehler gemacht, eine<lb/>
literarische Deduction zu geben, wo man eine einfache amtliche Erklärung er¬<lb/>
wartet hat; aber die Deduction an sich war vollkommen richtig. Die Jagd<lb/>
Nach Plagiaten und Reminiscenzen geht im Theater wie in der Musik haupt¬<lb/>
sächlich von solchen aus, die in der einschlagenden Literatur sehr wenig be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0271] der Spitze. Hat doch neuerdings ein Anhänger dieser Theorie den Antrag gestellt, die Ehe überhaupt von der obrigkeitlichen Erlaubniß abhängig zu machen. So lange noch diese büreaukratische Voraussetzung, daß der Staat immer besser wissen müsse, was dem Einzelnen frommt, als der Einzelne selbst, in den Köpfen unsrer Gesetzgeber spukt, wird der sogenannte organische Natur¬ wuchs des Staats, den die sogenannte historische Schule zu vertreten behauptet, eine leere Chimäre bleiben. Theater. Graf Esser. Trauerspiel in fünf Acten von Heinrich Laube, als Manuscript gedruckt. — Wir wollen das Drama, welches jetzt fast überall durch die Aufführung bekannt ist, nicht ausführlich besprechen. Der Dichter hat auch dies Mal wieder sein Verständniß der theatralischen Mittel auf eine glänzende Weise bethätigt; er hat auch dies Mal wieder darin fehlgegriffen, daß er mit diesen Mitteln einen zu großen Aufwand treibt. Namentlich zeigt sich das im letzten Act, wo die eigentliche Spannung vorüber ist und die pathologische Entwicklung der tödtlich verletzten Gemüther beginnt. Die zweite Auflage der Ophelia hätte sich der Dichter wol ersparen mögen. In der un¬ endlichen Reihe von Dramen, welche diesen wunderlichen Stoff behandeln, be¬ hauptet das laubesche einen ehrenvollen Platz. Wir können uns zwar nicht rühmen, alle diese Versuche gelesen zu haben, aber doch einen ziemlich großen Theil (noch neuerdings außer dem werlherschen Concurrenzstück das Drama eines jungen Dichters , Lohmann). Wir nennen den Stoff wunderlich, weil »ach unsrer Ueberzeugung eine verliebte alte Frau, mag es auch die Königin Elisabeth sein, höchstens ins Lustspiel gehört, denn als tragisches Motiv be¬ nutzt macht sich die Unnatur der Situation auf eine' beleidigende Weise geltend. Zudem kommt für unsern neuern Dichter noch die Schwierigkeit einer Concur- renz mit Schiller. Schiller hat sehr weise das Alter der Königin ziemlich un¬ bestimmt gelassen; einem Dichter des Esser dagegen ist das nicht möglich, denn in diesem Punkt würde ihn jeder Schüler corrigiren. — Wir wollen das Drama vorzugsweise dazu benutzen, nachträglich auf eine große literarische Fehde ein-- zugehen, die wir bisher ignorirt haben, weil sie uns gar zu abgeschmackt vor¬ kam. Laube selbst hatte in der Bachert-Werther-Frage den Fehler gemacht, eine literarische Deduction zu geben, wo man eine einfache amtliche Erklärung er¬ wartet hat; aber die Deduction an sich war vollkommen richtig. Die Jagd Nach Plagiaten und Reminiscenzen geht im Theater wie in der Musik haupt¬ sächlich von solchen aus, die in der einschlagenden Literatur sehr wenig be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/271
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/271>, abgerufen am 21.06.2024.