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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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eines unversöhnlichen und aus erheblichen Gründen entstandenen Hasses. Um
richterliche Willkür abzuschneiden, specialisirt es diese Gründe. Die hochkirch¬
liche Partei macht dagegen die Einwendung, daß so etwas nur selten objectiv
constatirt werden könne. Ein wunderlicher Einwand, denn die Scheidung er¬
folgt ja nur, wenn die Thatsache allerdings constatirt werden kann. Andauernde,
das ganze Leben zerrüttende Trunksucht hört auf, ein Grund der Scheidung
zu sein; ja was man als den Gipfel der Paradorie betrachten kann, das Gesetz
soll dem einen Theil auch in dem Fall die Scheidung versagen, wenn der an¬
dere ein schimpfliches Gewerbe ergreift. -- Um also in der sogenannten Doctrin
consequent zu bleiben, wird nicht blos das Lebensglück, sondern auch die Sitt¬
lichkeit der Individuen aufgeopfert.

Alle diese Bestimmungen sind so erstaunlich, daß man sie sich nur aus der
Hitze erklärt, mit welcher die moderne lutherische Orthodoxie alle Brocken zu¬
sammensucht, aus denen sie hofft, ein Surrogat jener Autorität herstellen zu
können, die sie bei der katholischen Kirche so sehr beneidet. Die katholische
Kirche hat in der absoluten Autorität des Papstes und in der Tradition jene un¬
umstößliche Sicherheit, die man bei uns aus der Zusammenstellung einzelner,
aus dem Zusammenhang gerissener Bibelstellen nicht wird herstellen können.
In dem katholischen Frankreich gilt noch der Code Napoleon, das liberalste
unter allen Gesetzbüchern in Bezug auf die Ehescheidung, welches doch der
Autorität der Kirche nicht den geringsten Eintrag thut, denn es trennt die bür¬
gerliche Ehe von der kirchlichen. Sobald man auch bei uns die bürgerliche
Ehe eingeführt haben wird, möge man die Bestimmungen des Kirchenrechts so
straff anziehen, als man will, sie werden die freie Entwicklung der menschlichen
Beziehungen nicht beeinträchtigen.

Gewiß ist der Leichtsinn, mit dem so häufig die Ehen geschlossen werden,
und der dann zu dem Wunsch einer Trennung führt, ein höchst sträflicher;
gewiß ist die Neigung der neuern Zeit, das Gefühl über die Pflicht hinaus¬
zusetzen, verwerflich. Die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist die Fa¬
milie und je leichtsinniger man das Recht derselben behandelt, desto schwanken¬
der wird das Fundament des Staats. Aber das Gesetz muß die Thatsachen
anerkennen. Es gibt leider Ehen, deren Fortdauer nicht blos namenloses
Elend über die Betheiligten bringt, sondern sie sittlich vernichtet. Das Gesetz
muß die Möglichkeit geben, diese Ehen zu lösen, und es muß der Sitte über¬
lassen, den Mißbrauch dieses Rechts zu hintertreiben. Wenn die öffentliche
Meinung so weit kommt, in jeder Scheidung einen Makel für die Betheiligten
zu erblicken, so wird das gedeihlicher für die Heiligkeit der Ehe sein, als der
Eingriff des Gesetzes. Es wird bei uns zu viel regiert und niemand ist eifri¬
ger in der Kodifikation, als die doctrinären Feinde der Codification, den be¬
rühmten Verfasser des Buchs über den Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung an


eines unversöhnlichen und aus erheblichen Gründen entstandenen Hasses. Um
richterliche Willkür abzuschneiden, specialisirt es diese Gründe. Die hochkirch¬
liche Partei macht dagegen die Einwendung, daß so etwas nur selten objectiv
constatirt werden könne. Ein wunderlicher Einwand, denn die Scheidung er¬
folgt ja nur, wenn die Thatsache allerdings constatirt werden kann. Andauernde,
das ganze Leben zerrüttende Trunksucht hört auf, ein Grund der Scheidung
zu sein; ja was man als den Gipfel der Paradorie betrachten kann, das Gesetz
soll dem einen Theil auch in dem Fall die Scheidung versagen, wenn der an¬
dere ein schimpfliches Gewerbe ergreift. — Um also in der sogenannten Doctrin
consequent zu bleiben, wird nicht blos das Lebensglück, sondern auch die Sitt¬
lichkeit der Individuen aufgeopfert.

Alle diese Bestimmungen sind so erstaunlich, daß man sie sich nur aus der
Hitze erklärt, mit welcher die moderne lutherische Orthodoxie alle Brocken zu¬
sammensucht, aus denen sie hofft, ein Surrogat jener Autorität herstellen zu
können, die sie bei der katholischen Kirche so sehr beneidet. Die katholische
Kirche hat in der absoluten Autorität des Papstes und in der Tradition jene un¬
umstößliche Sicherheit, die man bei uns aus der Zusammenstellung einzelner,
aus dem Zusammenhang gerissener Bibelstellen nicht wird herstellen können.
In dem katholischen Frankreich gilt noch der Code Napoleon, das liberalste
unter allen Gesetzbüchern in Bezug auf die Ehescheidung, welches doch der
Autorität der Kirche nicht den geringsten Eintrag thut, denn es trennt die bür¬
gerliche Ehe von der kirchlichen. Sobald man auch bei uns die bürgerliche
Ehe eingeführt haben wird, möge man die Bestimmungen des Kirchenrechts so
straff anziehen, als man will, sie werden die freie Entwicklung der menschlichen
Beziehungen nicht beeinträchtigen.

Gewiß ist der Leichtsinn, mit dem so häufig die Ehen geschlossen werden,
und der dann zu dem Wunsch einer Trennung führt, ein höchst sträflicher;
gewiß ist die Neigung der neuern Zeit, das Gefühl über die Pflicht hinaus¬
zusetzen, verwerflich. Die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist die Fa¬
milie und je leichtsinniger man das Recht derselben behandelt, desto schwanken¬
der wird das Fundament des Staats. Aber das Gesetz muß die Thatsachen
anerkennen. Es gibt leider Ehen, deren Fortdauer nicht blos namenloses
Elend über die Betheiligten bringt, sondern sie sittlich vernichtet. Das Gesetz
muß die Möglichkeit geben, diese Ehen zu lösen, und es muß der Sitte über¬
lassen, den Mißbrauch dieses Rechts zu hintertreiben. Wenn die öffentliche
Meinung so weit kommt, in jeder Scheidung einen Makel für die Betheiligten
zu erblicken, so wird das gedeihlicher für die Heiligkeit der Ehe sein, als der
Eingriff des Gesetzes. Es wird bei uns zu viel regiert und niemand ist eifri¬
ger in der Kodifikation, als die doctrinären Feinde der Codification, den be¬
rühmten Verfasser des Buchs über den Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung an


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/270>, abgerufen am 21.06.2024.