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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Gegner drängen zu dem Geständnis), daß er nicht mehr auf kirchlichem Boden stehe,
auf Niederlegung des Amtes. Die Ehrlichkeit der eignen Ueberzeugung tritt in
Widerstreit mit jedem Wort, jeder Handlung seines geistlichen Berufs. Was
soll der mit sich selbst Zerfallende beginnen? .... In diesem innern Kampfe
vereinsamt der gequälte Denker vollends. Das Volksbewußtsein wird ihm
immer fremdartiger, das öffentliche Leben gleichgiltig. . . . Dieser falsche
wissenschaftliche Aristokratismus, den die kleinen politischen Thatsachen, aus
denen sich übrigens die großen zusammensetzen, kalt lassen, weil sich nicht so¬
fort ein philosophischer Verstand darin entdecken läßt, hat sich an der ganzen
gebildeten Welt schwer gerächt. . . . Sie wußte nicht, was beginnen, als
plötzlich die rohe Masse das große politische Wort nahm. ... Es ist die
Buße für die Vereinsamung, in welche sich der Gebildete und vollends der Ge¬
lehrte von dem Volksleben zurückgezogen hat, seinen Gedankenkämpfen in stolzer
Abgeschlossenheit nachgehend." -- Trotz seiner vielfachen Beschäftigung mit dem
Volksleben nimmt aber Riehl selbst doch einigermaßen diese Stellung deS ein¬
samen Gebildeten ein. So z. B. wenn er dem Protestantismus die principielle
Toleranz gegen den Katholicismus zuschreibt. Der echte Protestantismus ist
ebenso intolerant gegen die katholische Kirche als diese gegen ihn; nur der Jn-
differentismus und die Doctrin gestehen dem Gegner das ebenbürtige Recht der
Eristenz zu. (Schluß folgt.)




Ans dem Lager des Beamtenproletlniats.

Zu den vielen verfehlten Hoffnungen, welche die von allen Seiten sehn¬
suchtsvoll erwartetete und mit freudiger, allgemeiner Theilnahme begrüßte po¬
litische Reorganisation unsres Kaisertums uns hinterließ, gehört ohne Zweifel
das Jnslebentreten jener nothwendig gewordenen Reformen, welche den Zustand
des östreichischen Beamtenwesens den Verhältnissen unsrer Zeit entsprechend um¬
wandeln sollten. Eine Broschüre, welche -I8i8 die grellsten Mißstände deS
damaligen Beamtenthums beleuchtet, liegt vor uns, und gewährt uns einen
interessanten Vergleich mit den gegenwärtigen Zuständen, aus dem wir daS
wenig trostreiche Resultat ziehen, daß alles so ziemlich beim Alten geblieben
>se- Noch immer spielt das ProtectionSwesen die Hauptrolle bei der Be¬
setzung von Dienststellen und Beförderungen; noch immer muß der mittelloseste
Beamte, wenn er auf sein Ansuchen übersetzt wird, die Reiseauslagen aus
Eignen bestreiten; noch immer besteht das grellste Mißverhältniß in der üblichen
PensionSnorm zwischen dem minder besoldeten Beamten und dem höher besoldeten


Grenzboten. II. I8ö(i. 32

Gegner drängen zu dem Geständnis), daß er nicht mehr auf kirchlichem Boden stehe,
auf Niederlegung des Amtes. Die Ehrlichkeit der eignen Ueberzeugung tritt in
Widerstreit mit jedem Wort, jeder Handlung seines geistlichen Berufs. Was
soll der mit sich selbst Zerfallende beginnen? .... In diesem innern Kampfe
vereinsamt der gequälte Denker vollends. Das Volksbewußtsein wird ihm
immer fremdartiger, das öffentliche Leben gleichgiltig. . . . Dieser falsche
wissenschaftliche Aristokratismus, den die kleinen politischen Thatsachen, aus
denen sich übrigens die großen zusammensetzen, kalt lassen, weil sich nicht so¬
fort ein philosophischer Verstand darin entdecken läßt, hat sich an der ganzen
gebildeten Welt schwer gerächt. . . . Sie wußte nicht, was beginnen, als
plötzlich die rohe Masse das große politische Wort nahm. ... Es ist die
Buße für die Vereinsamung, in welche sich der Gebildete und vollends der Ge¬
lehrte von dem Volksleben zurückgezogen hat, seinen Gedankenkämpfen in stolzer
Abgeschlossenheit nachgehend." — Trotz seiner vielfachen Beschäftigung mit dem
Volksleben nimmt aber Riehl selbst doch einigermaßen diese Stellung deS ein¬
samen Gebildeten ein. So z. B. wenn er dem Protestantismus die principielle
Toleranz gegen den Katholicismus zuschreibt. Der echte Protestantismus ist
ebenso intolerant gegen die katholische Kirche als diese gegen ihn; nur der Jn-
differentismus und die Doctrin gestehen dem Gegner das ebenbürtige Recht der
Eristenz zu. (Schluß folgt.)




Ans dem Lager des Beamtenproletlniats.

Zu den vielen verfehlten Hoffnungen, welche die von allen Seiten sehn¬
suchtsvoll erwartetete und mit freudiger, allgemeiner Theilnahme begrüßte po¬
litische Reorganisation unsres Kaisertums uns hinterließ, gehört ohne Zweifel
das Jnslebentreten jener nothwendig gewordenen Reformen, welche den Zustand
des östreichischen Beamtenwesens den Verhältnissen unsrer Zeit entsprechend um¬
wandeln sollten. Eine Broschüre, welche -I8i8 die grellsten Mißstände deS
damaligen Beamtenthums beleuchtet, liegt vor uns, und gewährt uns einen
interessanten Vergleich mit den gegenwärtigen Zuständen, aus dem wir daS
wenig trostreiche Resultat ziehen, daß alles so ziemlich beim Alten geblieben
>se- Noch immer spielt das ProtectionSwesen die Hauptrolle bei der Be¬
setzung von Dienststellen und Beförderungen; noch immer muß der mittelloseste
Beamte, wenn er auf sein Ansuchen übersetzt wird, die Reiseauslagen aus
Eignen bestreiten; noch immer besteht das grellste Mißverhältniß in der üblichen
PensionSnorm zwischen dem minder besoldeten Beamten und dem höher besoldeten


Grenzboten. II. I8ö(i. 32
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[0257] Gegner drängen zu dem Geständnis), daß er nicht mehr auf kirchlichem Boden stehe, auf Niederlegung des Amtes. Die Ehrlichkeit der eignen Ueberzeugung tritt in Widerstreit mit jedem Wort, jeder Handlung seines geistlichen Berufs. Was soll der mit sich selbst Zerfallende beginnen? .... In diesem innern Kampfe vereinsamt der gequälte Denker vollends. Das Volksbewußtsein wird ihm immer fremdartiger, das öffentliche Leben gleichgiltig. . . . Dieser falsche wissenschaftliche Aristokratismus, den die kleinen politischen Thatsachen, aus denen sich übrigens die großen zusammensetzen, kalt lassen, weil sich nicht so¬ fort ein philosophischer Verstand darin entdecken läßt, hat sich an der ganzen gebildeten Welt schwer gerächt. . . . Sie wußte nicht, was beginnen, als plötzlich die rohe Masse das große politische Wort nahm. ... Es ist die Buße für die Vereinsamung, in welche sich der Gebildete und vollends der Ge¬ lehrte von dem Volksleben zurückgezogen hat, seinen Gedankenkämpfen in stolzer Abgeschlossenheit nachgehend." — Trotz seiner vielfachen Beschäftigung mit dem Volksleben nimmt aber Riehl selbst doch einigermaßen diese Stellung deS ein¬ samen Gebildeten ein. So z. B. wenn er dem Protestantismus die principielle Toleranz gegen den Katholicismus zuschreibt. Der echte Protestantismus ist ebenso intolerant gegen die katholische Kirche als diese gegen ihn; nur der Jn- differentismus und die Doctrin gestehen dem Gegner das ebenbürtige Recht der Eristenz zu. (Schluß folgt.) Ans dem Lager des Beamtenproletlniats. Zu den vielen verfehlten Hoffnungen, welche die von allen Seiten sehn¬ suchtsvoll erwartetete und mit freudiger, allgemeiner Theilnahme begrüßte po¬ litische Reorganisation unsres Kaisertums uns hinterließ, gehört ohne Zweifel das Jnslebentreten jener nothwendig gewordenen Reformen, welche den Zustand des östreichischen Beamtenwesens den Verhältnissen unsrer Zeit entsprechend um¬ wandeln sollten. Eine Broschüre, welche -I8i8 die grellsten Mißstände deS damaligen Beamtenthums beleuchtet, liegt vor uns, und gewährt uns einen interessanten Vergleich mit den gegenwärtigen Zuständen, aus dem wir daS wenig trostreiche Resultat ziehen, daß alles so ziemlich beim Alten geblieben >se- Noch immer spielt das ProtectionSwesen die Hauptrolle bei der Be¬ setzung von Dienststellen und Beförderungen; noch immer muß der mittelloseste Beamte, wenn er auf sein Ansuchen übersetzt wird, die Reiseauslagen aus Eignen bestreiten; noch immer besteht das grellste Mißverhältniß in der üblichen PensionSnorm zwischen dem minder besoldeten Beamten und dem höher besoldeten Grenzboten. II. I8ö(i. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/257>, abgerufen am 21.06.2024.