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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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schaften, die der Verfasser genau kennen gelernt hat, namentlich des Rheingaus,
der südlichen Districte des Vaterlandes, Rügens und des Westerwaldes. Zwar
leiden auch diese Schilderungen an dem Bestreben einer falschen Verallgemeine¬
rung, aber es werden uns so viel interessante Blicke in das wirkliche Volks¬
leben eröffnet, daß wir dem Verfasser nur dankbar sein können. Zudem stimmen
wir in politischer Beziehung im Wesentlichen seinen Ansichten bei.

Riehl findet in der deutschen Volks- und Staatenentwicklung drei Gruppen:
das centralisirte Norddeutschland, das centralisirte Süddeutschland und das indivi-
dualisirte Mitteldeutschland. Zu dem ersten wird man außer Preußen, in dem jene
Centralisation den klarsten Ausdruck gewonnen hat, auch Hannover, Mecklenburg
und Holstein rechnen, die durch ihre geographische Lage, wie durch die Volkssitten
eigentlich dazu bestimmt sind, mit dem preußischen Ländergebiet zu einem Staat
vereinigt zu werden. Riehl setzt sehr richtig auseinander, wie die Existenz eines
charakterlosen Mitteldeutschland, dessen dauerndes Interesse darin liegt, sich dem
schwächeren Großstaat anzuschließen und den stärkeren entschlossen zu bekämpfen,
das Elend Deutschlands hervorgerufen habe, daß der norddeutsche und der
Süddeutsche, so scharf sie sich anscheinend entgegengesetzt sind, dennoch im
innern Kern ihres Wesens zueinander viel mehr Verwandtschaft haben, als zu
den Mitteldeutschen. Freilich bricht er auch hier wieder seiner Entwicklung
die Spitze ab. Aus suum Schilderungen geht unwiderleglich hervor, daß
die Existenz Mitteldeutschlands nur eine Scheineristenz ist. Statt aber zu
der natürlichen Folgerung zu kommen, daß der Lauf der Geschichte wahr¬
scheinlich diese unorganische Masse einer der schon entwickelten organischen
Staatenbildungen zuführen wird, kommt er plötzlich auf den Einfall, Mittel¬
deutschland werde doch wol aus sich heraus ein eignes Lebensprincip ent¬
wickeln. -- Der Definition der Kleinstaaterei treten wir bei. "Der.kleinste
Staat ist kein Kleinstaat, so lange der Verwaltungsauswand zu den Verwal¬
teten, so lange die beanspruchten politischen Rechte zu den politischen Leistungen
in richtiger Proportion stehen. Es kann sogar ein großer Staat zur Klein¬
staaterei herabsinken, wenn er mehr zu sein prätendirt, als er wirklich sein kann."
Nur möchten wir der Deutlichkeit wegen hinzusetzen, baß zu jenen beanspruchten
politischen Rechten, die nothwendigerweise auch eine Macht verlangen, auch
die unbedingte Souveränetät zu zählen ist.

Die Darstellung der kirchlichen Verhältnisse enthält im Einzelnen viel
Schönes. Es ist gut, daß laut und vernehmlich constatirt wird, daß die kirch¬
liche Macht noch wirklich besteht. Vortrefflich ist die Würdigung des Strauß-
feder Mürklin. "Als er glaubt, daß die Wissenschaft über den materiellen In¬
halt der Religion hinausgehend das letzte Wort gesprochen habe, da kann er
nicht mehr predigen. Und nun beginnt bei ihm erst recht jener innere Kampf,
der eine so große Rolle in der Sittengeschichte der neuern Zeit spielt. D>e


schaften, die der Verfasser genau kennen gelernt hat, namentlich des Rheingaus,
der südlichen Districte des Vaterlandes, Rügens und des Westerwaldes. Zwar
leiden auch diese Schilderungen an dem Bestreben einer falschen Verallgemeine¬
rung, aber es werden uns so viel interessante Blicke in das wirkliche Volks¬
leben eröffnet, daß wir dem Verfasser nur dankbar sein können. Zudem stimmen
wir in politischer Beziehung im Wesentlichen seinen Ansichten bei.

Riehl findet in der deutschen Volks- und Staatenentwicklung drei Gruppen:
das centralisirte Norddeutschland, das centralisirte Süddeutschland und das indivi-
dualisirte Mitteldeutschland. Zu dem ersten wird man außer Preußen, in dem jene
Centralisation den klarsten Ausdruck gewonnen hat, auch Hannover, Mecklenburg
und Holstein rechnen, die durch ihre geographische Lage, wie durch die Volkssitten
eigentlich dazu bestimmt sind, mit dem preußischen Ländergebiet zu einem Staat
vereinigt zu werden. Riehl setzt sehr richtig auseinander, wie die Existenz eines
charakterlosen Mitteldeutschland, dessen dauerndes Interesse darin liegt, sich dem
schwächeren Großstaat anzuschließen und den stärkeren entschlossen zu bekämpfen,
das Elend Deutschlands hervorgerufen habe, daß der norddeutsche und der
Süddeutsche, so scharf sie sich anscheinend entgegengesetzt sind, dennoch im
innern Kern ihres Wesens zueinander viel mehr Verwandtschaft haben, als zu
den Mitteldeutschen. Freilich bricht er auch hier wieder seiner Entwicklung
die Spitze ab. Aus suum Schilderungen geht unwiderleglich hervor, daß
die Existenz Mitteldeutschlands nur eine Scheineristenz ist. Statt aber zu
der natürlichen Folgerung zu kommen, daß der Lauf der Geschichte wahr¬
scheinlich diese unorganische Masse einer der schon entwickelten organischen
Staatenbildungen zuführen wird, kommt er plötzlich auf den Einfall, Mittel¬
deutschland werde doch wol aus sich heraus ein eignes Lebensprincip ent¬
wickeln. — Der Definition der Kleinstaaterei treten wir bei. „Der.kleinste
Staat ist kein Kleinstaat, so lange der Verwaltungsauswand zu den Verwal¬
teten, so lange die beanspruchten politischen Rechte zu den politischen Leistungen
in richtiger Proportion stehen. Es kann sogar ein großer Staat zur Klein¬
staaterei herabsinken, wenn er mehr zu sein prätendirt, als er wirklich sein kann."
Nur möchten wir der Deutlichkeit wegen hinzusetzen, baß zu jenen beanspruchten
politischen Rechten, die nothwendigerweise auch eine Macht verlangen, auch
die unbedingte Souveränetät zu zählen ist.

Die Darstellung der kirchlichen Verhältnisse enthält im Einzelnen viel
Schönes. Es ist gut, daß laut und vernehmlich constatirt wird, daß die kirch¬
liche Macht noch wirklich besteht. Vortrefflich ist die Würdigung des Strauß-
feder Mürklin. „Als er glaubt, daß die Wissenschaft über den materiellen In¬
halt der Religion hinausgehend das letzte Wort gesprochen habe, da kann er
nicht mehr predigen. Und nun beginnt bei ihm erst recht jener innere Kampf,
der eine so große Rolle in der Sittengeschichte der neuern Zeit spielt. D>e


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[0256] schaften, die der Verfasser genau kennen gelernt hat, namentlich des Rheingaus, der südlichen Districte des Vaterlandes, Rügens und des Westerwaldes. Zwar leiden auch diese Schilderungen an dem Bestreben einer falschen Verallgemeine¬ rung, aber es werden uns so viel interessante Blicke in das wirkliche Volks¬ leben eröffnet, daß wir dem Verfasser nur dankbar sein können. Zudem stimmen wir in politischer Beziehung im Wesentlichen seinen Ansichten bei. Riehl findet in der deutschen Volks- und Staatenentwicklung drei Gruppen: das centralisirte Norddeutschland, das centralisirte Süddeutschland und das indivi- dualisirte Mitteldeutschland. Zu dem ersten wird man außer Preußen, in dem jene Centralisation den klarsten Ausdruck gewonnen hat, auch Hannover, Mecklenburg und Holstein rechnen, die durch ihre geographische Lage, wie durch die Volkssitten eigentlich dazu bestimmt sind, mit dem preußischen Ländergebiet zu einem Staat vereinigt zu werden. Riehl setzt sehr richtig auseinander, wie die Existenz eines charakterlosen Mitteldeutschland, dessen dauerndes Interesse darin liegt, sich dem schwächeren Großstaat anzuschließen und den stärkeren entschlossen zu bekämpfen, das Elend Deutschlands hervorgerufen habe, daß der norddeutsche und der Süddeutsche, so scharf sie sich anscheinend entgegengesetzt sind, dennoch im innern Kern ihres Wesens zueinander viel mehr Verwandtschaft haben, als zu den Mitteldeutschen. Freilich bricht er auch hier wieder seiner Entwicklung die Spitze ab. Aus suum Schilderungen geht unwiderleglich hervor, daß die Existenz Mitteldeutschlands nur eine Scheineristenz ist. Statt aber zu der natürlichen Folgerung zu kommen, daß der Lauf der Geschichte wahr¬ scheinlich diese unorganische Masse einer der schon entwickelten organischen Staatenbildungen zuführen wird, kommt er plötzlich auf den Einfall, Mittel¬ deutschland werde doch wol aus sich heraus ein eignes Lebensprincip ent¬ wickeln. — Der Definition der Kleinstaaterei treten wir bei. „Der.kleinste Staat ist kein Kleinstaat, so lange der Verwaltungsauswand zu den Verwal¬ teten, so lange die beanspruchten politischen Rechte zu den politischen Leistungen in richtiger Proportion stehen. Es kann sogar ein großer Staat zur Klein¬ staaterei herabsinken, wenn er mehr zu sein prätendirt, als er wirklich sein kann." Nur möchten wir der Deutlichkeit wegen hinzusetzen, baß zu jenen beanspruchten politischen Rechten, die nothwendigerweise auch eine Macht verlangen, auch die unbedingte Souveränetät zu zählen ist. Die Darstellung der kirchlichen Verhältnisse enthält im Einzelnen viel Schönes. Es ist gut, daß laut und vernehmlich constatirt wird, daß die kirch¬ liche Macht noch wirklich besteht. Vortrefflich ist die Würdigung des Strauß- feder Mürklin. „Als er glaubt, daß die Wissenschaft über den materiellen In¬ halt der Religion hinausgehend das letzte Wort gesprochen habe, da kann er nicht mehr predigen. Und nun beginnt bei ihm erst recht jener innere Kampf, der eine so große Rolle in der Sittengeschichte der neuern Zeit spielt. D>e

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/256>, abgerufen am 21.06.2024.