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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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in der Regel oder wenigstens oft ausschließlich politisch sind, während bei den
erstem die socialen Beziehungen das Hauptinteresse bilden. Er möge einmal
eine gut redigirte französische Zeitung, wie das Journal des Dvbats, ins Auge ^
fassen, so wird er finden, daß die specifische Politik weit hinter den Klatsch aus
dem Privatleben zurücktritt, und daß die größte Feinheit nicht auf die politischen
Leitartikel, sondern auf diese Chronik der socialen Neuigkeiten verwandt wird.
Eine ausschließliche politische Zeitung, wie.die deutsche Zeitung es war, kennt
eben nur Deutschland. -- Es folgen eine Reihe niedlicher Idyllen: Feld und
Wald, Wege und Stege, Stadt und Land, die als solche sehr angenehm zu lesen
sind, die aber nicht den Anspruch darauf machen sollten, irgendeinen Beitrag zur
wissenschaftlichen Lösung der socialen Fragen zu bieten. Die durchgehende Polemik
gegen die Nationalökonomen ist sehr übel angebracht, da die Volkswirtschaft bei
uns längst aufgehört hat, einseitig mit mechanischen Productionökräften zu rechnen.
Die moralische Bedeutung der volkswirthschaftlichen Einrichtungen wird von der
neuern Wissenschaft ebenso in die Wagschale gelegt, wie die materielle. Zu¬
weilen erregt Riehl durch seine humoristische Form das peinliche Gefühl der
Unsicherheit, ob er im Spaß oder Ernst spricht. Man höre folgende Deduction
Seite 6-1: "Man sagt verschiedenen tiroler Gemeinden nach: sie hätten in alter
Zeit ihre Straßen absichtlich nicht an den Bergen her, sondern über die Berge
geführt, damit die Reisenden und ihr Geld recht lange im Land bleiben und die
Fuhrleute gehörig für Vorspannpferde zahlen möchten. Das gemahnt an die
Politik deutscher PostVerwaltungen, welche unbedenklich auch die krumme Linie
als die kürzeste zwischen zwei Punkten annahmen, wenn es galt, einem im
geraden Wege liegenden auswärtigen Postbesitzer ein paar Kreuzer Transilporto
abzuzwacken und die Briefe möglichst lang im eignen Bezirk zu behalten. Es
steckt aber auch ein tieferer Sinn hinter jener angeblichen Praxis der Tiroler.
Als man in alten Zeiten Straßen baute, individualisirte man das Laut>; die
Straße schuf eine Masse neuer Ansiedelungen, neue Städte, neue Dörfer.
Wenn wir dagegen heutzutage die echt modernen Straßen, nämlich Chausseen,
Eisenbahnen und Dampfschifflinien anlegen, so centralisiren wir das Land;
diese Straßen ruiniren die kleinen Städte, schaffen dagegen den großen einen
riesigen Zuwachs an Macht und Ausdehnung. Der Fußweg, der Feldweg,
die alte Heerstraße führten die Städte ins Land hinein; unsre neuen wunder¬
baren Straßenbauten des Weltverkehrs führen die Stadt zur Stadt und --
Land in die Stadt. Darum war es im Geiste des mittelalterlichen Weg¬
bausystems durchaus nicht widersinnig, die Reisenden aus möglichst langer Linie
un Lande herumzuführen." -- Der wunderliche Eindruck dieser Auseinander¬
setzung wird noch dadurch verschärft, daß nicht den Städten im vollen Ernst
Rath gibt, die Straßen krumm zu bauen.

Jetzt folgt der Glanzpunkt des Buchs, die Schilderung der einzelnen Land-


in der Regel oder wenigstens oft ausschließlich politisch sind, während bei den
erstem die socialen Beziehungen das Hauptinteresse bilden. Er möge einmal
eine gut redigirte französische Zeitung, wie das Journal des Dvbats, ins Auge ^
fassen, so wird er finden, daß die specifische Politik weit hinter den Klatsch aus
dem Privatleben zurücktritt, und daß die größte Feinheit nicht auf die politischen
Leitartikel, sondern auf diese Chronik der socialen Neuigkeiten verwandt wird.
Eine ausschließliche politische Zeitung, wie.die deutsche Zeitung es war, kennt
eben nur Deutschland. — Es folgen eine Reihe niedlicher Idyllen: Feld und
Wald, Wege und Stege, Stadt und Land, die als solche sehr angenehm zu lesen
sind, die aber nicht den Anspruch darauf machen sollten, irgendeinen Beitrag zur
wissenschaftlichen Lösung der socialen Fragen zu bieten. Die durchgehende Polemik
gegen die Nationalökonomen ist sehr übel angebracht, da die Volkswirtschaft bei
uns längst aufgehört hat, einseitig mit mechanischen Productionökräften zu rechnen.
Die moralische Bedeutung der volkswirthschaftlichen Einrichtungen wird von der
neuern Wissenschaft ebenso in die Wagschale gelegt, wie die materielle. Zu¬
weilen erregt Riehl durch seine humoristische Form das peinliche Gefühl der
Unsicherheit, ob er im Spaß oder Ernst spricht. Man höre folgende Deduction
Seite 6-1: „Man sagt verschiedenen tiroler Gemeinden nach: sie hätten in alter
Zeit ihre Straßen absichtlich nicht an den Bergen her, sondern über die Berge
geführt, damit die Reisenden und ihr Geld recht lange im Land bleiben und die
Fuhrleute gehörig für Vorspannpferde zahlen möchten. Das gemahnt an die
Politik deutscher PostVerwaltungen, welche unbedenklich auch die krumme Linie
als die kürzeste zwischen zwei Punkten annahmen, wenn es galt, einem im
geraden Wege liegenden auswärtigen Postbesitzer ein paar Kreuzer Transilporto
abzuzwacken und die Briefe möglichst lang im eignen Bezirk zu behalten. Es
steckt aber auch ein tieferer Sinn hinter jener angeblichen Praxis der Tiroler.
Als man in alten Zeiten Straßen baute, individualisirte man das Laut>; die
Straße schuf eine Masse neuer Ansiedelungen, neue Städte, neue Dörfer.
Wenn wir dagegen heutzutage die echt modernen Straßen, nämlich Chausseen,
Eisenbahnen und Dampfschifflinien anlegen, so centralisiren wir das Land;
diese Straßen ruiniren die kleinen Städte, schaffen dagegen den großen einen
riesigen Zuwachs an Macht und Ausdehnung. Der Fußweg, der Feldweg,
die alte Heerstraße führten die Städte ins Land hinein; unsre neuen wunder¬
baren Straßenbauten des Weltverkehrs führen die Stadt zur Stadt und —
Land in die Stadt. Darum war es im Geiste des mittelalterlichen Weg¬
bausystems durchaus nicht widersinnig, die Reisenden aus möglichst langer Linie
un Lande herumzuführen." — Der wunderliche Eindruck dieser Auseinander¬
setzung wird noch dadurch verschärft, daß nicht den Städten im vollen Ernst
Rath gibt, die Straßen krumm zu bauen.

Jetzt folgt der Glanzpunkt des Buchs, die Schilderung der einzelnen Land-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/255>, abgerufen am 21.06.2024.