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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Leute können in unsern Tagen ein eignes Haus haben. Nebenbei halten wir
es doch für einen großen Gewinn, daß die modernen Häuser ihren Bewohner"
Luft und Licht verstatten. Die beständige Kellerluft und die Finsterniß in den
alten Häusern mag etwas Romantisches haben, aber der Gesundheit war sie
gewiß nicht förderlich. Auch daß jeder Einzelne, sobald er mündig geworden ist,
sich nach einer eignen Stube sehnt, wo er sich zu Hause fühlt und wo er
unumschränkter Herr ist, halten wir für einen wesentlichen Fortschritt unsrer
Bildung.

Daß unsre sogenannte classische Literatur dem hohen Werth des Familien¬
lebens nicht gerecht geworden ist, wird sehr richtig hervorgehoben; auch in dieser
Beziehung sind wir besser, als unsre Bäter. Wunderlich genug klingt eS,
wenn aus der einen Seite das deutsche Kneipenleben als ein anerkennenswerthes
Streben, im Schoß einer Familie zu sein, gefeiert und gleich darauf als die
Zerstörung deS deutschen Familienlebens gebrandmarkt wird. Nicht ist eben
nicht Herr über seine Einfälle; auch darin spricht er sich als Feuilletonist aus. --
Ganz wunderlich ist die Vertheidigung der alten halbtollen Schmausereien und
des sinnlosen Lurus, der früher bei den großen Familienfesten Sitte war, und
dem die Polizei mit Recht gesteuert hat. Das wahre Vergnügen an diesen
Festen, war gering und es wurde mit schweren Opfern erkauft.

Daß Riehl die mehr und mehr einreißende Subjektivität beklagt, und die
Unsitte, seine Privatgefühle in Tagebüchern aufzuzeichnen, anstatt die wirklichen
Denkwürdigkeiten der Familie zu firen, lächerlich macht, ist sehr zu loben; nur
vergißt er dabei, daß dieses psychologische Raffinement einen ältern Ursprung
hat, als die französischen Romane; er vergißt, daß in der katholischen Kirche
seit der Zeit der Kasuisten die Beichtväter förmlich darauf eingeübt wurden, in
den Beichtkindern die abnormsten Gefühle zu entwickeln, sie aus ihnen heraus¬
zulocken oder in sie hinein zu dichten. Die Selbstschau unsrer jungen Damen
(denn bei Männern sind Tagebücher doch wol selten) ist sehr lächerlich, aber
sie hat doch nicht jenen üblen Beischmack, der aus der Forschung nach geheimen
Gedankensünden hervorgeht. Riehl ist eifrig beschäftigt, die Vorzüge der
katholischen Kirche hervorzuheben; er möge sich einmal die Anweisung für
die Beichtväter zu verschaffen suchen, es gehört das auch in eine Naturgeschichte
des Volks.

Von dem dritten Band springen wir sofort zum ersten über, der den Titel
führt: Land und Leute. Er besteht aus einer Reihe von Genrebildern, die
im Grunde unter sich keinen weitern Zusammenhang haben, als den ähnlichen
Gegenstand. -- Das Capitel über das Volk als Kunstobject, d. h. über die Dar¬
stellungen des Volks in Literatur und Malerei, ist vortrefflich, obgleich auch
hier wieder manche Beobachtungen falsch sind. So stellt er z. B. zwischen den
deutschen und den französischen Zeitungen den Gegensatz auf, daß die letzteren


Leute können in unsern Tagen ein eignes Haus haben. Nebenbei halten wir
es doch für einen großen Gewinn, daß die modernen Häuser ihren Bewohner»
Luft und Licht verstatten. Die beständige Kellerluft und die Finsterniß in den
alten Häusern mag etwas Romantisches haben, aber der Gesundheit war sie
gewiß nicht förderlich. Auch daß jeder Einzelne, sobald er mündig geworden ist,
sich nach einer eignen Stube sehnt, wo er sich zu Hause fühlt und wo er
unumschränkter Herr ist, halten wir für einen wesentlichen Fortschritt unsrer
Bildung.

Daß unsre sogenannte classische Literatur dem hohen Werth des Familien¬
lebens nicht gerecht geworden ist, wird sehr richtig hervorgehoben; auch in dieser
Beziehung sind wir besser, als unsre Bäter. Wunderlich genug klingt eS,
wenn aus der einen Seite das deutsche Kneipenleben als ein anerkennenswerthes
Streben, im Schoß einer Familie zu sein, gefeiert und gleich darauf als die
Zerstörung deS deutschen Familienlebens gebrandmarkt wird. Nicht ist eben
nicht Herr über seine Einfälle; auch darin spricht er sich als Feuilletonist aus. —
Ganz wunderlich ist die Vertheidigung der alten halbtollen Schmausereien und
des sinnlosen Lurus, der früher bei den großen Familienfesten Sitte war, und
dem die Polizei mit Recht gesteuert hat. Das wahre Vergnügen an diesen
Festen, war gering und es wurde mit schweren Opfern erkauft.

Daß Riehl die mehr und mehr einreißende Subjektivität beklagt, und die
Unsitte, seine Privatgefühle in Tagebüchern aufzuzeichnen, anstatt die wirklichen
Denkwürdigkeiten der Familie zu firen, lächerlich macht, ist sehr zu loben; nur
vergißt er dabei, daß dieses psychologische Raffinement einen ältern Ursprung
hat, als die französischen Romane; er vergißt, daß in der katholischen Kirche
seit der Zeit der Kasuisten die Beichtväter förmlich darauf eingeübt wurden, in
den Beichtkindern die abnormsten Gefühle zu entwickeln, sie aus ihnen heraus¬
zulocken oder in sie hinein zu dichten. Die Selbstschau unsrer jungen Damen
(denn bei Männern sind Tagebücher doch wol selten) ist sehr lächerlich, aber
sie hat doch nicht jenen üblen Beischmack, der aus der Forschung nach geheimen
Gedankensünden hervorgeht. Riehl ist eifrig beschäftigt, die Vorzüge der
katholischen Kirche hervorzuheben; er möge sich einmal die Anweisung für
die Beichtväter zu verschaffen suchen, es gehört das auch in eine Naturgeschichte
des Volks.

Von dem dritten Band springen wir sofort zum ersten über, der den Titel
führt: Land und Leute. Er besteht aus einer Reihe von Genrebildern, die
im Grunde unter sich keinen weitern Zusammenhang haben, als den ähnlichen
Gegenstand. — Das Capitel über das Volk als Kunstobject, d. h. über die Dar¬
stellungen des Volks in Literatur und Malerei, ist vortrefflich, obgleich auch
hier wieder manche Beobachtungen falsch sind. So stellt er z. B. zwischen den
deutschen und den französischen Zeitungen den Gegensatz auf, daß die letzteren


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[0254] Leute können in unsern Tagen ein eignes Haus haben. Nebenbei halten wir es doch für einen großen Gewinn, daß die modernen Häuser ihren Bewohner» Luft und Licht verstatten. Die beständige Kellerluft und die Finsterniß in den alten Häusern mag etwas Romantisches haben, aber der Gesundheit war sie gewiß nicht förderlich. Auch daß jeder Einzelne, sobald er mündig geworden ist, sich nach einer eignen Stube sehnt, wo er sich zu Hause fühlt und wo er unumschränkter Herr ist, halten wir für einen wesentlichen Fortschritt unsrer Bildung. Daß unsre sogenannte classische Literatur dem hohen Werth des Familien¬ lebens nicht gerecht geworden ist, wird sehr richtig hervorgehoben; auch in dieser Beziehung sind wir besser, als unsre Bäter. Wunderlich genug klingt eS, wenn aus der einen Seite das deutsche Kneipenleben als ein anerkennenswerthes Streben, im Schoß einer Familie zu sein, gefeiert und gleich darauf als die Zerstörung deS deutschen Familienlebens gebrandmarkt wird. Nicht ist eben nicht Herr über seine Einfälle; auch darin spricht er sich als Feuilletonist aus. — Ganz wunderlich ist die Vertheidigung der alten halbtollen Schmausereien und des sinnlosen Lurus, der früher bei den großen Familienfesten Sitte war, und dem die Polizei mit Recht gesteuert hat. Das wahre Vergnügen an diesen Festen, war gering und es wurde mit schweren Opfern erkauft. Daß Riehl die mehr und mehr einreißende Subjektivität beklagt, und die Unsitte, seine Privatgefühle in Tagebüchern aufzuzeichnen, anstatt die wirklichen Denkwürdigkeiten der Familie zu firen, lächerlich macht, ist sehr zu loben; nur vergißt er dabei, daß dieses psychologische Raffinement einen ältern Ursprung hat, als die französischen Romane; er vergißt, daß in der katholischen Kirche seit der Zeit der Kasuisten die Beichtväter förmlich darauf eingeübt wurden, in den Beichtkindern die abnormsten Gefühle zu entwickeln, sie aus ihnen heraus¬ zulocken oder in sie hinein zu dichten. Die Selbstschau unsrer jungen Damen (denn bei Männern sind Tagebücher doch wol selten) ist sehr lächerlich, aber sie hat doch nicht jenen üblen Beischmack, der aus der Forschung nach geheimen Gedankensünden hervorgeht. Riehl ist eifrig beschäftigt, die Vorzüge der katholischen Kirche hervorzuheben; er möge sich einmal die Anweisung für die Beichtväter zu verschaffen suchen, es gehört das auch in eine Naturgeschichte des Volks. Von dem dritten Band springen wir sofort zum ersten über, der den Titel führt: Land und Leute. Er besteht aus einer Reihe von Genrebildern, die im Grunde unter sich keinen weitern Zusammenhang haben, als den ähnlichen Gegenstand. — Das Capitel über das Volk als Kunstobject, d. h. über die Dar¬ stellungen des Volks in Literatur und Malerei, ist vortrefflich, obgleich auch hier wieder manche Beobachtungen falsch sind. So stellt er z. B. zwischen den deutschen und den französischen Zeitungen den Gegensatz auf, daß die letzteren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/254>, abgerufen am 21.06.2024.