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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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anstatt sie offen einzugestehen, anstatt sich damit zu begnügen, einzelne Bau¬
steine zusammenzutragen, aus denen dann ein Späterer etwas Ganzes auf¬
bauen möge, hat er sie durch einen hochfahrenden Ton zu verstecken gesucht,
der ihm nicht ziemt, denn das Buch wimmelt von Widersprüchen und läßt uns
fast überall im Stich, wo wir eine entscheidende Folgerung erwarten. Von
Zeit zu Zeit blickt er spöttisch auf die Nationalökonomen, die bei einem ein¬
seitigen Standpunkt stehen bleiben und daher leicht alles berechnen können.
In der That, der Standpunkt der Nationalökonomie ist ein einseitiger, weil
er von gewissen Rücksichten abstrahiren muß, obgleich auch hier neuerdings
durch Roschers Arbeiten der concreten Ansicht des Lebens ihr volles Recht
widerfährt: aber die Hauptsache ist, die Nationalökonomie rechnet mit Factoren,
die sie im Einzelnen genau erforscht und deren Zusammenhang sie sich klar gemacht
hat; die angebliche neue Wissenschaft der Socialpolitik dagegen läßt sich in
der Auswahl wie in der Anwendung ihrer Beobachtungen vom Zufall bestim¬
men. Man wird das Buch mit großem Vergnügen lesen, aber man wird nicht
überzeugt werden. -- Zuweilen ist es komisch, wie Riehl zwei widersprechende
Einfälle ganz einfach nebeneinander stellt, ohne sich darüber zu erklären, wel¬
chen von beiden er für richtig erachtet. So schildert er im dritten Band, S. -172,
die Vortrefflichkeit des Hausregiments, welches sich nicht blos auf Dienst¬
boten, sondern auch auf die Hausthiere erstreckt. Er wird bei dieser Schilde¬
rung ganz poetisch. "Gegenüber unserm Hunde sind wir die allwaltenden
Götter, schicksalspinnende Dämonen; darum vertraut der echte Hund blind sei¬
nem Herrn." Nun kommt ihm aber ein andrer Gedanke in den Sinn: "Was
freilich ein Hund im stillen Sinne denkt, wenn er die srevliche Hand des
Herrn leckt, die ihn maltraitirt, das hat uns bis jetzt noch keiner gesagt."
Diesen Gedanken, den er nicht unterdrücken kann, setzt er in Parenthese hinzu,
und ohne zu merken, daß dadurch seiner Beweisführung gradezu die Spitze
abgebrochen ist, fährt er fort: Darum u. s. w. Diese Gemüthsverfassung, sich
einer für den leitenden Gesichtspunkt wesentlichen Betrachtung dadurch zu ein¬
schlagen, daß man sie einfach fallen läßt, mag für den humoristischen Dichter
sehr geeignet sein, für die Wissenschaft ist sie es jedenfalls nicht. Riehl glaubt
dadurch eine höhere Stufe der wissenschaftlichen Kunstform erstiegen zu haben,
daß er die gerade Linie derselben durch humoristische Kreuz- und Quersprünge
verziert. Diese Manier ist heutzutage nicht selten, sie ist aber durchaus ver¬
werflich, denn in der Wissenschaft fördert nur derjenige Weg, bei dem man
keinen Schritt zurückmachen darf.

Wir gehen nach diesen allgemeinen Bemerkungen auf das Einzelne über.
Da die Entstehung des Buchs nach dem Geständniß des Verfassers selbst eine
zufällige ist, so wird es uns verstattet sein, die Ordnung desselben umzukehren und
mit dem zu beginnen, was man gewöhnlich als das Ursprüngliche der geselli-


anstatt sie offen einzugestehen, anstatt sich damit zu begnügen, einzelne Bau¬
steine zusammenzutragen, aus denen dann ein Späterer etwas Ganzes auf¬
bauen möge, hat er sie durch einen hochfahrenden Ton zu verstecken gesucht,
der ihm nicht ziemt, denn das Buch wimmelt von Widersprüchen und läßt uns
fast überall im Stich, wo wir eine entscheidende Folgerung erwarten. Von
Zeit zu Zeit blickt er spöttisch auf die Nationalökonomen, die bei einem ein¬
seitigen Standpunkt stehen bleiben und daher leicht alles berechnen können.
In der That, der Standpunkt der Nationalökonomie ist ein einseitiger, weil
er von gewissen Rücksichten abstrahiren muß, obgleich auch hier neuerdings
durch Roschers Arbeiten der concreten Ansicht des Lebens ihr volles Recht
widerfährt: aber die Hauptsache ist, die Nationalökonomie rechnet mit Factoren,
die sie im Einzelnen genau erforscht und deren Zusammenhang sie sich klar gemacht
hat; die angebliche neue Wissenschaft der Socialpolitik dagegen läßt sich in
der Auswahl wie in der Anwendung ihrer Beobachtungen vom Zufall bestim¬
men. Man wird das Buch mit großem Vergnügen lesen, aber man wird nicht
überzeugt werden. — Zuweilen ist es komisch, wie Riehl zwei widersprechende
Einfälle ganz einfach nebeneinander stellt, ohne sich darüber zu erklären, wel¬
chen von beiden er für richtig erachtet. So schildert er im dritten Band, S. -172,
die Vortrefflichkeit des Hausregiments, welches sich nicht blos auf Dienst¬
boten, sondern auch auf die Hausthiere erstreckt. Er wird bei dieser Schilde¬
rung ganz poetisch. „Gegenüber unserm Hunde sind wir die allwaltenden
Götter, schicksalspinnende Dämonen; darum vertraut der echte Hund blind sei¬
nem Herrn." Nun kommt ihm aber ein andrer Gedanke in den Sinn: „Was
freilich ein Hund im stillen Sinne denkt, wenn er die srevliche Hand des
Herrn leckt, die ihn maltraitirt, das hat uns bis jetzt noch keiner gesagt."
Diesen Gedanken, den er nicht unterdrücken kann, setzt er in Parenthese hinzu,
und ohne zu merken, daß dadurch seiner Beweisführung gradezu die Spitze
abgebrochen ist, fährt er fort: Darum u. s. w. Diese Gemüthsverfassung, sich
einer für den leitenden Gesichtspunkt wesentlichen Betrachtung dadurch zu ein¬
schlagen, daß man sie einfach fallen läßt, mag für den humoristischen Dichter
sehr geeignet sein, für die Wissenschaft ist sie es jedenfalls nicht. Riehl glaubt
dadurch eine höhere Stufe der wissenschaftlichen Kunstform erstiegen zu haben,
daß er die gerade Linie derselben durch humoristische Kreuz- und Quersprünge
verziert. Diese Manier ist heutzutage nicht selten, sie ist aber durchaus ver¬
werflich, denn in der Wissenschaft fördert nur derjenige Weg, bei dem man
keinen Schritt zurückmachen darf.

Wir gehen nach diesen allgemeinen Bemerkungen auf das Einzelne über.
Da die Entstehung des Buchs nach dem Geständniß des Verfassers selbst eine
zufällige ist, so wird es uns verstattet sein, die Ordnung desselben umzukehren und
mit dem zu beginnen, was man gewöhnlich als das Ursprüngliche der geselli-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/250>, abgerufen am 27.07.2024.