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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Die Naturgeschichte des Volks.

Die Naturgeschichte des Volks als Grundlage einer deutschen So¬
cialpolitik. Von W. H. Nie si. Drei Bände. Zweite vermehrte Auflage.
Stuttgart und Augsburg, Cotta. --

Ein Buch, welches einen so außerordentlichen Zugang bei fast allen
Schichten des Volks gefunden hat, wie das vorliegende, kann nicht ohne Werth
sein. Der Geschmack deö Tages, vor allem aber der Wunsch einer großen
politischen Partei, ihre egoistischen Interessen auch vom Standpunkt der Bil¬
dung und Menschenliebe aus zu rechtfertigen, erklärt vieles, allein doch nicht
alles; und in der That finden sich unter Richis Beobachtungen sehr viele, die
uns durch Feinheit deö Blicks und durch Lebendigkeit der Darstellung anziehen,
freilich hart daneben auch andre, in die wir beim besten Willen keinen halt¬
baren Sinn hineinlegen können. Dürfen wir also beim Eingang unsrer Kritik
einen allgemeinen Wunsch aussprechen, so wäre es dieser , daß Riehl seine
Arbeit in der feuilletonistischen Form, in der sie ursprünglich gedacht war, ge¬
lassen und nicht durch den Schein einer systematischen Durcharbeitung eine
falsche Vorstellung erweckt hätte. Er erzählt selbst in der Einleitung, seine
Arbeit sei nicht gemacht, sondern geworden, er sei nicht mit einem bestimmten
Princip, mit einer bestimmten Ueberzeugung daran gegangen, sondern aus viel¬
seitigen Beobachtungen habe sich ihm ein Princip erst allmälig und natur¬
wüchsig entwickelt und so sei durch Aneinandergliederung des Einzelnen ein
organisches Ganze entstanden.-- Auf diese Weise kann sich eine Ueberzeugung
entwickeln, aber kein wissenschaftliches Lehrgebäude. Zu diesem gehört noch ein
zweiter Proceß. Wenn man sich aus vielen einzelnen Anschauungen eine
Meinung entwickelt hat, so muß man alsdann die Richtigkeit derselben an
allen Fällen prüfen; man muß dasjenige, was gegen dieselbe spricht, ebenso
gewissenhaft zusammenzählen, als dasjenige, was sich dafür zu entscheiden
scheint, und erst durch einen genauen Vergleich dieser beiden Reihen wird sich
ein Facit ziehen lassen. -- Diese Arbeit hat Riehl nicht gethan. Er ist bei
seinen ursprünglichen Beobachtungen stehen geblieben und hat die Lücken ent¬
weder durch willkürliche Einfälle ausgefüllt oder er hat sie auch ganz unbeach¬
tet gelassen. Die M.^agelhastigkeit dieses Verfahrens hat er wohl gefühlt; aber


Grenzboten. ., I8ö6. 31
Die Naturgeschichte des Volks.

Die Naturgeschichte des Volks als Grundlage einer deutschen So¬
cialpolitik. Von W. H. Nie si. Drei Bände. Zweite vermehrte Auflage.
Stuttgart und Augsburg, Cotta. —

Ein Buch, welches einen so außerordentlichen Zugang bei fast allen
Schichten des Volks gefunden hat, wie das vorliegende, kann nicht ohne Werth
sein. Der Geschmack deö Tages, vor allem aber der Wunsch einer großen
politischen Partei, ihre egoistischen Interessen auch vom Standpunkt der Bil¬
dung und Menschenliebe aus zu rechtfertigen, erklärt vieles, allein doch nicht
alles; und in der That finden sich unter Richis Beobachtungen sehr viele, die
uns durch Feinheit deö Blicks und durch Lebendigkeit der Darstellung anziehen,
freilich hart daneben auch andre, in die wir beim besten Willen keinen halt¬
baren Sinn hineinlegen können. Dürfen wir also beim Eingang unsrer Kritik
einen allgemeinen Wunsch aussprechen, so wäre es dieser , daß Riehl seine
Arbeit in der feuilletonistischen Form, in der sie ursprünglich gedacht war, ge¬
lassen und nicht durch den Schein einer systematischen Durcharbeitung eine
falsche Vorstellung erweckt hätte. Er erzählt selbst in der Einleitung, seine
Arbeit sei nicht gemacht, sondern geworden, er sei nicht mit einem bestimmten
Princip, mit einer bestimmten Ueberzeugung daran gegangen, sondern aus viel¬
seitigen Beobachtungen habe sich ihm ein Princip erst allmälig und natur¬
wüchsig entwickelt und so sei durch Aneinandergliederung des Einzelnen ein
organisches Ganze entstanden.— Auf diese Weise kann sich eine Ueberzeugung
entwickeln, aber kein wissenschaftliches Lehrgebäude. Zu diesem gehört noch ein
zweiter Proceß. Wenn man sich aus vielen einzelnen Anschauungen eine
Meinung entwickelt hat, so muß man alsdann die Richtigkeit derselben an
allen Fällen prüfen; man muß dasjenige, was gegen dieselbe spricht, ebenso
gewissenhaft zusammenzählen, als dasjenige, was sich dafür zu entscheiden
scheint, und erst durch einen genauen Vergleich dieser beiden Reihen wird sich
ein Facit ziehen lassen. — Diese Arbeit hat Riehl nicht gethan. Er ist bei
seinen ursprünglichen Beobachtungen stehen geblieben und hat die Lücken ent¬
weder durch willkürliche Einfälle ausgefüllt oder er hat sie auch ganz unbeach¬
tet gelassen. Die M.^agelhastigkeit dieses Verfahrens hat er wohl gefühlt; aber


Grenzboten. ., I8ö6. 31
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[0249] Die Naturgeschichte des Volks. Die Naturgeschichte des Volks als Grundlage einer deutschen So¬ cialpolitik. Von W. H. Nie si. Drei Bände. Zweite vermehrte Auflage. Stuttgart und Augsburg, Cotta. — Ein Buch, welches einen so außerordentlichen Zugang bei fast allen Schichten des Volks gefunden hat, wie das vorliegende, kann nicht ohne Werth sein. Der Geschmack deö Tages, vor allem aber der Wunsch einer großen politischen Partei, ihre egoistischen Interessen auch vom Standpunkt der Bil¬ dung und Menschenliebe aus zu rechtfertigen, erklärt vieles, allein doch nicht alles; und in der That finden sich unter Richis Beobachtungen sehr viele, die uns durch Feinheit deö Blicks und durch Lebendigkeit der Darstellung anziehen, freilich hart daneben auch andre, in die wir beim besten Willen keinen halt¬ baren Sinn hineinlegen können. Dürfen wir also beim Eingang unsrer Kritik einen allgemeinen Wunsch aussprechen, so wäre es dieser , daß Riehl seine Arbeit in der feuilletonistischen Form, in der sie ursprünglich gedacht war, ge¬ lassen und nicht durch den Schein einer systematischen Durcharbeitung eine falsche Vorstellung erweckt hätte. Er erzählt selbst in der Einleitung, seine Arbeit sei nicht gemacht, sondern geworden, er sei nicht mit einem bestimmten Princip, mit einer bestimmten Ueberzeugung daran gegangen, sondern aus viel¬ seitigen Beobachtungen habe sich ihm ein Princip erst allmälig und natur¬ wüchsig entwickelt und so sei durch Aneinandergliederung des Einzelnen ein organisches Ganze entstanden.— Auf diese Weise kann sich eine Ueberzeugung entwickeln, aber kein wissenschaftliches Lehrgebäude. Zu diesem gehört noch ein zweiter Proceß. Wenn man sich aus vielen einzelnen Anschauungen eine Meinung entwickelt hat, so muß man alsdann die Richtigkeit derselben an allen Fällen prüfen; man muß dasjenige, was gegen dieselbe spricht, ebenso gewissenhaft zusammenzählen, als dasjenige, was sich dafür zu entscheiden scheint, und erst durch einen genauen Vergleich dieser beiden Reihen wird sich ein Facit ziehen lassen. — Diese Arbeit hat Riehl nicht gethan. Er ist bei seinen ursprünglichen Beobachtungen stehen geblieben und hat die Lücken ent¬ weder durch willkürliche Einfälle ausgefüllt oder er hat sie auch ganz unbeach¬ tet gelassen. Die M.^agelhastigkeit dieses Verfahrens hat er wohl gefühlt; aber Grenzboten. ., I8ö6. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/249>, abgerufen am 05.07.2024.