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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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man sich flüchtig mit der Idee, die Hegemonie über ganz Deutschland Oestreich
zu überlassen.

Wenn nun der Ehrgeiz keiner der beiden Mächte so weit geben kann, die
Hegemonie über Deutschland ausschließlich zu führen, wenn die gemeinschaft¬
liche Ausübung der Hegemonie nur dazu führt, daß der Einfluß der einen
Macht den Einfluß der andern aufhebt : -- liegt nicht der Ausweg nahe, daß
in Bezug auf die Hegemonie über Deutschland jeder der beiden Staaten sich
eine bestimmte Sphäre seines Einflusses auserwählt, daß beide' sich darüber
einigen und sich redlich darin unterstützen? War es wol natürlich, daß Preußen
in Baden, daß Oestreich in Holstein intervenirte? Wir glauben, daß, wenn
man die ruhige Ueberlegung über das Spiel der Leidenschaften walten läßt,
sich eine Einigung, die mit den bestehenden staatsrechtlichen Formen und
mit dem Wohl dxs ganzen Deutschland in Einklang steht, wol wird finden
lassen.

Wie dem auch sei, Oestreich bleibt ein höchst bedeutender Factor in der
deutschen Geschichte, der, wenn man ihn außer Rechnung läßt, die ganze Rech¬
nung verwirrt. Daß es das Gefühl lebhaft anregt, ist nicht das kleinste Ver¬
dienst des von uns besprochenen Buchs. --

Nachtrag. Früher, als man erwarten konnte, beginnen die Enthüllungen
nicht blos über den Friedensvertrag selbst, sondern auch über die Verhand¬
lungen, die denselben begleitet haben. Wer jenes Document unbefangen be¬
trachtet, wird nicht ableugnen wollen, daß Rußland in der That eine ungeheure
Niederlage erlitten hat, eine Niederlage, wie sie bisher in seiner ganzen Ge¬
schichte nicht vorgekommen ist. Es ist aus allen seinen Positionen zurück"
geschlagen, es hat nicht nur seine ausschweifenden Ansprüche, nicht blos seine
bisher allgemein anerkannten Rechte aufgeben müssen, sondern es hat auch
einen ganz ernstlichen Machtverlust erlitten. Die weiteren Hoffnungen, die
sich an den Ausbruch des Krieges knüpften, sind zwar getäuscht worden, aber
diese mußten schon von dem Augenblick an als chimärisch erscheinen, wo man
zu der Ueberzeugung gekommen war, daß Oestreich und Preußen sich an dem
Kriege nicht betheiligen würden d. h: seit den letzten wiener Konferenzen.
Was England und Frankreich für sich allein gegen Nußland ausrichten konn¬
ten, haben sie in der That erreicht, denn an wirkliche Eroberungen konnten
sie kaum denken; und der einzige Punkt, der namentlich unter den Engländern
Mißvergnügen erregen wird, daß nämlich von einer Entschädigung für die
Kriegskosten keine Rede ist, hatte seine ernsten Bedenken. Mit einer gewissen
Dstentation wird jetzt verkündet, daß Rußland sofort an die Ausführung eines
großen Eisenbahnnetzes gehen wird, um den Mängeln seiner bisherigen Krieg¬
führung abzuhelfen; und wir wollen die Gefahr, die uns von dieser Seite
droht, nicht verkennen. Indeß wird sie wenigstens zum Theil dadurch auf-


man sich flüchtig mit der Idee, die Hegemonie über ganz Deutschland Oestreich
zu überlassen.

Wenn nun der Ehrgeiz keiner der beiden Mächte so weit geben kann, die
Hegemonie über Deutschland ausschließlich zu führen, wenn die gemeinschaft¬
liche Ausübung der Hegemonie nur dazu führt, daß der Einfluß der einen
Macht den Einfluß der andern aufhebt : — liegt nicht der Ausweg nahe, daß
in Bezug auf die Hegemonie über Deutschland jeder der beiden Staaten sich
eine bestimmte Sphäre seines Einflusses auserwählt, daß beide' sich darüber
einigen und sich redlich darin unterstützen? War es wol natürlich, daß Preußen
in Baden, daß Oestreich in Holstein intervenirte? Wir glauben, daß, wenn
man die ruhige Ueberlegung über das Spiel der Leidenschaften walten läßt,
sich eine Einigung, die mit den bestehenden staatsrechtlichen Formen und
mit dem Wohl dxs ganzen Deutschland in Einklang steht, wol wird finden
lassen.

Wie dem auch sei, Oestreich bleibt ein höchst bedeutender Factor in der
deutschen Geschichte, der, wenn man ihn außer Rechnung läßt, die ganze Rech¬
nung verwirrt. Daß es das Gefühl lebhaft anregt, ist nicht das kleinste Ver¬
dienst des von uns besprochenen Buchs. —

Nachtrag. Früher, als man erwarten konnte, beginnen die Enthüllungen
nicht blos über den Friedensvertrag selbst, sondern auch über die Verhand¬
lungen, die denselben begleitet haben. Wer jenes Document unbefangen be¬
trachtet, wird nicht ableugnen wollen, daß Rußland in der That eine ungeheure
Niederlage erlitten hat, eine Niederlage, wie sie bisher in seiner ganzen Ge¬
schichte nicht vorgekommen ist. Es ist aus allen seinen Positionen zurück»
geschlagen, es hat nicht nur seine ausschweifenden Ansprüche, nicht blos seine
bisher allgemein anerkannten Rechte aufgeben müssen, sondern es hat auch
einen ganz ernstlichen Machtverlust erlitten. Die weiteren Hoffnungen, die
sich an den Ausbruch des Krieges knüpften, sind zwar getäuscht worden, aber
diese mußten schon von dem Augenblick an als chimärisch erscheinen, wo man
zu der Ueberzeugung gekommen war, daß Oestreich und Preußen sich an dem
Kriege nicht betheiligen würden d. h: seit den letzten wiener Konferenzen.
Was England und Frankreich für sich allein gegen Nußland ausrichten konn¬
ten, haben sie in der That erreicht, denn an wirkliche Eroberungen konnten
sie kaum denken; und der einzige Punkt, der namentlich unter den Engländern
Mißvergnügen erregen wird, daß nämlich von einer Entschädigung für die
Kriegskosten keine Rede ist, hatte seine ernsten Bedenken. Mit einer gewissen
Dstentation wird jetzt verkündet, daß Rußland sofort an die Ausführung eines
großen Eisenbahnnetzes gehen wird, um den Mängeln seiner bisherigen Krieg¬
führung abzuhelfen; und wir wollen die Gefahr, die uns von dieser Seite
droht, nicht verkennen. Indeß wird sie wenigstens zum Theil dadurch auf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/231>, abgerufen am 05.07.2024.