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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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die meisten der kanonischen Schriften Tendenzschriften und ihre Tendenz ist
vorzugsweise eine vermittelnde. Unsre kanonischen Evangelien sind keineswegs
die ältesten und ursprünglichsten Evangelienbi.ldungen; ihnen geht ein älterer
Stamm voraus, der Ausdruck des strengen rigoristischen Christenthums. Man
hat ihn durch Auslassungen und Einschiebungen später der veränderten Tendenz
angepaßt.

Die Richtigkeit dieser Auffassung vorausgesetzt, bleibt es doch sehr bedenk¬
lich , dieselbe lediglich nach innern Gründen im Detail auszuführen. Es ist
charakteristisch, daß die Resultate der Schule, abgesehen von der Apostelgeschichte,
wo freilich nur eine Quelle vorliegt, grade so divergiren, wie die Arbeiten der
frühern Kritik. Wenn also auch das Resultat, man wisse nicht genau, wie es
mit der Zusammensetzung des Einzelnen beschaffen sei, nur ein negatives ist,
so ist es doch befriedigender, als der scheinbare Positivismus einer schnellferti¬
gen Antwort, die nicht durch hinreichende Beweise gestützt wird.

Dessenungeachtet stimmen wir dem Verfasser darin vollkommen bei, daß
sich mittelbar aus diesen Studien ein sehr großer Gewinn ergibt. "Wie "viel
oder wenig sie Wissenschaft von allen Ergebnissen dieser Kritik stehen lassen
mag, die von hier ausgegangene Anregung ist eine außerordentliche gewesen.
Es ist die Literatur der beiden ersten Jahrhunderte von den kritischen Gold¬
suchern von neuem ausgewühlt und nicht so leicht irgend ein Goldkörnchen
übersehen worden. Namentlich sind die Untersuchungen über die alten petrini-
schen Evangelien, die Clementinen, den Justinus Martyr und seine Denkwürdig¬
keiten der Apostel, den Marcion, sämmtliche apostolische Väter, den Montanis¬
mus, die Gnosis, die Passahstreitigkeiten u. s. w. u. s. w- mit großer Gründ¬
lichkeit geführt und die meisten dieser Fragen in ein ganz neues Stadium ge¬
beten.....Diese sich in einem engen historischen Kreise bewegenden Arbeiten,
welche mit mikroskopischer Genauigkeit auch die geringsten Data untersuchen
und kritisch analysiren, erinnern an die gleichzeitige mikroskopische Richtung in
den Naturwissenschaften und das ungeheure Aufgebot von Fleiß und Beobach¬
tung, welches hier verwandt wird." -- Nur darf man freilich dabei nicht ver¬
gessen, daß in dem Gebiet der Naturwissenschaften die mikroskopische Beobachtung
wirkliche Gegenstände zeigt und daß es Mittel gibt, die künstlichen Gläser von
aller falschen subjektiven Farbe zu befreien, während man in der Theologie
nothwendigerweise mit subjectiven Voraussetzungen operiren muß, so daß es
u" höchsten Grade nothwendig ist, die mikroskopische Beobachtung durch jene
großen Perspektiven, wie sie uns die Philosophie der Geschichte und die welt¬
liche Geschichtschreibung überhaupt an die Hand gibt, zu ergänzen, um nicht
falsche Dimensionen zu sehen.

Von der historischen Kritik wendet sich der Verfasser zu dem philosophisch¬
dogmatischen Proceß. -- Der Straußfeder Dogmatik wird er nicht ganz gerecht.


Grenzboten. II. 1866. 23

die meisten der kanonischen Schriften Tendenzschriften und ihre Tendenz ist
vorzugsweise eine vermittelnde. Unsre kanonischen Evangelien sind keineswegs
die ältesten und ursprünglichsten Evangelienbi.ldungen; ihnen geht ein älterer
Stamm voraus, der Ausdruck des strengen rigoristischen Christenthums. Man
hat ihn durch Auslassungen und Einschiebungen später der veränderten Tendenz
angepaßt.

Die Richtigkeit dieser Auffassung vorausgesetzt, bleibt es doch sehr bedenk¬
lich , dieselbe lediglich nach innern Gründen im Detail auszuführen. Es ist
charakteristisch, daß die Resultate der Schule, abgesehen von der Apostelgeschichte,
wo freilich nur eine Quelle vorliegt, grade so divergiren, wie die Arbeiten der
frühern Kritik. Wenn also auch das Resultat, man wisse nicht genau, wie es
mit der Zusammensetzung des Einzelnen beschaffen sei, nur ein negatives ist,
so ist es doch befriedigender, als der scheinbare Positivismus einer schnellferti¬
gen Antwort, die nicht durch hinreichende Beweise gestützt wird.

Dessenungeachtet stimmen wir dem Verfasser darin vollkommen bei, daß
sich mittelbar aus diesen Studien ein sehr großer Gewinn ergibt. „Wie „viel
oder wenig sie Wissenschaft von allen Ergebnissen dieser Kritik stehen lassen
mag, die von hier ausgegangene Anregung ist eine außerordentliche gewesen.
Es ist die Literatur der beiden ersten Jahrhunderte von den kritischen Gold¬
suchern von neuem ausgewühlt und nicht so leicht irgend ein Goldkörnchen
übersehen worden. Namentlich sind die Untersuchungen über die alten petrini-
schen Evangelien, die Clementinen, den Justinus Martyr und seine Denkwürdig¬
keiten der Apostel, den Marcion, sämmtliche apostolische Väter, den Montanis¬
mus, die Gnosis, die Passahstreitigkeiten u. s. w. u. s. w- mit großer Gründ¬
lichkeit geführt und die meisten dieser Fragen in ein ganz neues Stadium ge¬
beten.....Diese sich in einem engen historischen Kreise bewegenden Arbeiten,
welche mit mikroskopischer Genauigkeit auch die geringsten Data untersuchen
und kritisch analysiren, erinnern an die gleichzeitige mikroskopische Richtung in
den Naturwissenschaften und das ungeheure Aufgebot von Fleiß und Beobach¬
tung, welches hier verwandt wird." — Nur darf man freilich dabei nicht ver¬
gessen, daß in dem Gebiet der Naturwissenschaften die mikroskopische Beobachtung
wirkliche Gegenstände zeigt und daß es Mittel gibt, die künstlichen Gläser von
aller falschen subjektiven Farbe zu befreien, während man in der Theologie
nothwendigerweise mit subjectiven Voraussetzungen operiren muß, so daß es
u» höchsten Grade nothwendig ist, die mikroskopische Beobachtung durch jene
großen Perspektiven, wie sie uns die Philosophie der Geschichte und die welt¬
liche Geschichtschreibung überhaupt an die Hand gibt, zu ergänzen, um nicht
falsche Dimensionen zu sehen.

Von der historischen Kritik wendet sich der Verfasser zu dem philosophisch¬
dogmatischen Proceß. — Der Straußfeder Dogmatik wird er nicht ganz gerecht.


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[0185] die meisten der kanonischen Schriften Tendenzschriften und ihre Tendenz ist vorzugsweise eine vermittelnde. Unsre kanonischen Evangelien sind keineswegs die ältesten und ursprünglichsten Evangelienbi.ldungen; ihnen geht ein älterer Stamm voraus, der Ausdruck des strengen rigoristischen Christenthums. Man hat ihn durch Auslassungen und Einschiebungen später der veränderten Tendenz angepaßt. Die Richtigkeit dieser Auffassung vorausgesetzt, bleibt es doch sehr bedenk¬ lich , dieselbe lediglich nach innern Gründen im Detail auszuführen. Es ist charakteristisch, daß die Resultate der Schule, abgesehen von der Apostelgeschichte, wo freilich nur eine Quelle vorliegt, grade so divergiren, wie die Arbeiten der frühern Kritik. Wenn also auch das Resultat, man wisse nicht genau, wie es mit der Zusammensetzung des Einzelnen beschaffen sei, nur ein negatives ist, so ist es doch befriedigender, als der scheinbare Positivismus einer schnellferti¬ gen Antwort, die nicht durch hinreichende Beweise gestützt wird. Dessenungeachtet stimmen wir dem Verfasser darin vollkommen bei, daß sich mittelbar aus diesen Studien ein sehr großer Gewinn ergibt. „Wie „viel oder wenig sie Wissenschaft von allen Ergebnissen dieser Kritik stehen lassen mag, die von hier ausgegangene Anregung ist eine außerordentliche gewesen. Es ist die Literatur der beiden ersten Jahrhunderte von den kritischen Gold¬ suchern von neuem ausgewühlt und nicht so leicht irgend ein Goldkörnchen übersehen worden. Namentlich sind die Untersuchungen über die alten petrini- schen Evangelien, die Clementinen, den Justinus Martyr und seine Denkwürdig¬ keiten der Apostel, den Marcion, sämmtliche apostolische Väter, den Montanis¬ mus, die Gnosis, die Passahstreitigkeiten u. s. w. u. s. w- mit großer Gründ¬ lichkeit geführt und die meisten dieser Fragen in ein ganz neues Stadium ge¬ beten.....Diese sich in einem engen historischen Kreise bewegenden Arbeiten, welche mit mikroskopischer Genauigkeit auch die geringsten Data untersuchen und kritisch analysiren, erinnern an die gleichzeitige mikroskopische Richtung in den Naturwissenschaften und das ungeheure Aufgebot von Fleiß und Beobach¬ tung, welches hier verwandt wird." — Nur darf man freilich dabei nicht ver¬ gessen, daß in dem Gebiet der Naturwissenschaften die mikroskopische Beobachtung wirkliche Gegenstände zeigt und daß es Mittel gibt, die künstlichen Gläser von aller falschen subjektiven Farbe zu befreien, während man in der Theologie nothwendigerweise mit subjectiven Voraussetzungen operiren muß, so daß es u» höchsten Grade nothwendig ist, die mikroskopische Beobachtung durch jene großen Perspektiven, wie sie uns die Philosophie der Geschichte und die welt¬ liche Geschichtschreibung überhaupt an die Hand gibt, zu ergänzen, um nicht falsche Dimensionen zu sehen. Von der historischen Kritik wendet sich der Verfasser zu dem philosophisch¬ dogmatischen Proceß. — Der Straußfeder Dogmatik wird er nicht ganz gerecht. Grenzboten. II. 1866. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/185>, abgerufen am 27.06.2024.