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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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und machen nur noch auf die Charakteristik Tholücks und Neanders aufmerk¬
sam. Beide sind musterhaft.

Die tübinger Schule bezeichnet der Verfasser als einen sehr wichtigen
Fortschritt über Strauß hinaus. Das straußsche Buch hatte keine sichere
Grundlage gefunden. "Es war ein leichtes und luftiges Gebäude, keck hingestellt,
ohne daß ihm eine sichere und dauerhafte Grundlage gegeben. Es war eine
Kritik der evangelischen Geschichte versucht, ohne daß eine Kritik der einzelnen
Evangelien, ihres Alters und Ursprungs vorausgegangen. Es war diese Kritik
bei dem negativen Resultate angelangt, daß alle evangelische Geschichte unsicher
geworden; aber es war nicht die letzte Aufgabe jeder Kritik, die Sonderung
des Echten von dem Unechten, des Historischen von dem Unhistorischen voll¬
zogen, es war nicht die Grenzlinie zwischen Geschichte und Mythus gefunden.
Endlich war das Resultat deshalb ein so dürftiges, weil es in der bloßen Un-
geschichtlichkeit bestand, nicht aber den Nachweis enthielt, wie die einzelnen
Evangelien zu diesen Ungeschicklichkeiten gekommen, welches das Charakteristi¬
sche, der verschiedenen Evangelien, welche die ihnen zu Grunde liegende Tendenz,
die Art ihrer Entstehung und Composition. Der Grund aller dieser Mängel
war der, daß die Kritik eines breitern historischen Unterbaues entbehrte." Der
Verfasser setzt nun ausführlich auseinander, in welcher Weise die tübinger
Schule diesen Uebelständen abgeholfen habe. Hier müssen wir uns aber einigen
Einspruch erlauben.

Wenn Strauß aus jene Fragen die Antwort schuldig blieb, so lag der
Grund keineswegs darin, daß er ihre Wichtigkeit verkannte, sondern in seiner
Ueberzeugung, es lasse sich eine Antwort überhaupt nicht geben. Das ist
grade das Wesen eines mythischen Zeitalters, daß sich die einzelnen Elemente
Desselben nicht mehr ermitteln lassen. Die äußeren Anhaltpunkte für die
Evangeliengeschichte, gleichzeitige heidnische Schriftsteller, die darauf Bezug
nehmen u. s. w., fehlen gänzlich; man muß sich daher lediglich nach innern
Gründen entscheiden und diese Methode gibt der Subjectivität einen gar zu
freien Spielraum. -- Die tübinger Schule ging von der an sich ganz richtigen
Grundanschauung aus, das Christenthum sei nicht ein von vornherein fertiges,
sondern es habe sich allmälig entwickelt. Das jüdische Element war die
Schranke, welche das weltbürgerliche paulinische Christenthum erst nach langen
inneren Kämpfen durchbrechen konnte. Die dogmatischen Parteigegensätze des
Petrinismns und Pauliniömus sind der Schlüssel für die Literatur des ersten und
zweiten Jahrhunderts, also auch für das Verständniß der kanonischen Schriften
und der Frage nach ihrem Alter und Entstehungskreise. Diese Schriften stehen
entweder noch unter der ganzen Heftigkeit des unmittelbaren Gegensatzes, wie
die paulinischen Briefe einerseits und die Apokalypse andrerseits, oder sie ge¬
hören schon der spätern Tendenz an, den Gegensatz zu verwischen. So sind


und machen nur noch auf die Charakteristik Tholücks und Neanders aufmerk¬
sam. Beide sind musterhaft.

Die tübinger Schule bezeichnet der Verfasser als einen sehr wichtigen
Fortschritt über Strauß hinaus. Das straußsche Buch hatte keine sichere
Grundlage gefunden. „Es war ein leichtes und luftiges Gebäude, keck hingestellt,
ohne daß ihm eine sichere und dauerhafte Grundlage gegeben. Es war eine
Kritik der evangelischen Geschichte versucht, ohne daß eine Kritik der einzelnen
Evangelien, ihres Alters und Ursprungs vorausgegangen. Es war diese Kritik
bei dem negativen Resultate angelangt, daß alle evangelische Geschichte unsicher
geworden; aber es war nicht die letzte Aufgabe jeder Kritik, die Sonderung
des Echten von dem Unechten, des Historischen von dem Unhistorischen voll¬
zogen, es war nicht die Grenzlinie zwischen Geschichte und Mythus gefunden.
Endlich war das Resultat deshalb ein so dürftiges, weil es in der bloßen Un-
geschichtlichkeit bestand, nicht aber den Nachweis enthielt, wie die einzelnen
Evangelien zu diesen Ungeschicklichkeiten gekommen, welches das Charakteristi¬
sche, der verschiedenen Evangelien, welche die ihnen zu Grunde liegende Tendenz,
die Art ihrer Entstehung und Composition. Der Grund aller dieser Mängel
war der, daß die Kritik eines breitern historischen Unterbaues entbehrte." Der
Verfasser setzt nun ausführlich auseinander, in welcher Weise die tübinger
Schule diesen Uebelständen abgeholfen habe. Hier müssen wir uns aber einigen
Einspruch erlauben.

Wenn Strauß aus jene Fragen die Antwort schuldig blieb, so lag der
Grund keineswegs darin, daß er ihre Wichtigkeit verkannte, sondern in seiner
Ueberzeugung, es lasse sich eine Antwort überhaupt nicht geben. Das ist
grade das Wesen eines mythischen Zeitalters, daß sich die einzelnen Elemente
Desselben nicht mehr ermitteln lassen. Die äußeren Anhaltpunkte für die
Evangeliengeschichte, gleichzeitige heidnische Schriftsteller, die darauf Bezug
nehmen u. s. w., fehlen gänzlich; man muß sich daher lediglich nach innern
Gründen entscheiden und diese Methode gibt der Subjectivität einen gar zu
freien Spielraum. — Die tübinger Schule ging von der an sich ganz richtigen
Grundanschauung aus, das Christenthum sei nicht ein von vornherein fertiges,
sondern es habe sich allmälig entwickelt. Das jüdische Element war die
Schranke, welche das weltbürgerliche paulinische Christenthum erst nach langen
inneren Kämpfen durchbrechen konnte. Die dogmatischen Parteigegensätze des
Petrinismns und Pauliniömus sind der Schlüssel für die Literatur des ersten und
zweiten Jahrhunderts, also auch für das Verständniß der kanonischen Schriften
und der Frage nach ihrem Alter und Entstehungskreise. Diese Schriften stehen
entweder noch unter der ganzen Heftigkeit des unmittelbaren Gegensatzes, wie
die paulinischen Briefe einerseits und die Apokalypse andrerseits, oder sie ge¬
hören schon der spätern Tendenz an, den Gegensatz zu verwischen. So sind


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/184>, abgerufen am 27.07.2024.