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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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"Die ganze Dogmatik", sagt er, "erscheint als ein innerer Bildungs- und
Zerstörungsproceß, als ein resultatloses Entstehen und Vergehen, wobei nament¬
lich alle Erscheinungen der sich rückbildenden Metamorphose, die versteckten
Widersprüche, die allmälige Zernagung aller festen Fäden des Dogma durch
den Zweifel mit erschreckender Wahrheit vorgeführt werden." "Es zeigt sich,
wie seine Kritik eine nur auflösende, das Resultat ein nur negatives bleibt.
Seine Dogmatik ist gar keine Dogmatik, sondern nur eine Kritik der einzelnen
Dogmen.....Die Kritik ist hoffnungslos blasirt, angefressen von dem aus¬
dörrenden Geist der hegelschen Philosophie, ohne alle Frische und Tapferkeit
einer eignen und positiven persönlichen Ueberzeugung, ohne die Kraft lebendiger,
durch alle Zerstörungen hindurchschauender Intuition!" Das ist im höchsten
Grade ungerecht. Strauß wollte ja gar keine Dogmatik schreiben, sondern nur
einen Nachweis von dem allmäligen Umbildungsproceß der Dogmen aus der
Form der Vorstellung in die Form des Begriffs, bei welchem Proceß ihr
inneres Wesen verloren ging. Wenn seine Deduction falsch ist, so darf das
nicht durch Vorwürfe gegen seinen Muth, an dem eS ihm wahrhaftig nicht
fehlt, sondern'durch wissenschaftliche Gründe nachgewiesen werden. Ebenso un¬
gerecht ist der folgende Vorwurf. "Der Grundirrthum ist der, daß die Reli¬
gion mit der religiösen Vorstellung identificirt wird. Die religiöse Vorstellung
ist aber nichts, als die unvollkommenste, die der großen Masse angehörende
Form des Wissens von der Religion. Diese unreine, äußerliche, dualistische
Form des Wissens soll aufgehoben werden in die höhere, in die wahrhaft
wissenschaftliche, die philosophische. Die religiöse Vorstellung soll also durch
die negative Kritik hindurchgehen und aufgehen in die Philosophie; nicht so
die Religion." -- Das ist doch wunderlich! Einmal hat es die Kritik der
Dogmatik nicht mit der Religion an sich, sondern mit der Religion, wie sie
in der Form der Vorstellung erscheint, zu thun; die Religion an sich gehört
in ein andres Capitel. Sodann versteht man nicht recht den Zusammenhang
dieser Behauptung mit den vorhergehenden Deductionen, aus denen sich doch
ergab, daß jeder Versuch, die Dogmen in Philosopheme zu übersetzen, an sei¬
ner innern Unmöglichkeit scheitern mußte.

Dagegen stimmen wir mit dem, was über Feuerbach gesagt wird, voll¬
ständig überein. "Es ist in Feuerbach ein gewaltiger Durchbruch der Sinn¬
lichkeit, des Anschauungsvermögens, der Leidenschaft, des ganzen lebensvollen
und genußbedürftigen Menschen durch die unerträgliche Alleinherrschaft der Logik
eingetreten____ Er selbst hat lange die Fesseln der Logik getragen und schleudert
sie nun von sich mit der Leidenschaft eines Rasenden. Er sieht überall Be¬
schränkung der Natur, Unnatur, falschen Spiritualismus, Idealismus u. s. w."
-- Sehr sein ist namentlich der Widerspruch entwickelt, der in Feuerbach selbst
zwischen dem künstlich anerzogenen subjectiven Idealismus und dem Naturalis-


„Die ganze Dogmatik", sagt er, „erscheint als ein innerer Bildungs- und
Zerstörungsproceß, als ein resultatloses Entstehen und Vergehen, wobei nament¬
lich alle Erscheinungen der sich rückbildenden Metamorphose, die versteckten
Widersprüche, die allmälige Zernagung aller festen Fäden des Dogma durch
den Zweifel mit erschreckender Wahrheit vorgeführt werden." „Es zeigt sich,
wie seine Kritik eine nur auflösende, das Resultat ein nur negatives bleibt.
Seine Dogmatik ist gar keine Dogmatik, sondern nur eine Kritik der einzelnen
Dogmen.....Die Kritik ist hoffnungslos blasirt, angefressen von dem aus¬
dörrenden Geist der hegelschen Philosophie, ohne alle Frische und Tapferkeit
einer eignen und positiven persönlichen Ueberzeugung, ohne die Kraft lebendiger,
durch alle Zerstörungen hindurchschauender Intuition!" Das ist im höchsten
Grade ungerecht. Strauß wollte ja gar keine Dogmatik schreiben, sondern nur
einen Nachweis von dem allmäligen Umbildungsproceß der Dogmen aus der
Form der Vorstellung in die Form des Begriffs, bei welchem Proceß ihr
inneres Wesen verloren ging. Wenn seine Deduction falsch ist, so darf das
nicht durch Vorwürfe gegen seinen Muth, an dem eS ihm wahrhaftig nicht
fehlt, sondern'durch wissenschaftliche Gründe nachgewiesen werden. Ebenso un¬
gerecht ist der folgende Vorwurf. „Der Grundirrthum ist der, daß die Reli¬
gion mit der religiösen Vorstellung identificirt wird. Die religiöse Vorstellung
ist aber nichts, als die unvollkommenste, die der großen Masse angehörende
Form des Wissens von der Religion. Diese unreine, äußerliche, dualistische
Form des Wissens soll aufgehoben werden in die höhere, in die wahrhaft
wissenschaftliche, die philosophische. Die religiöse Vorstellung soll also durch
die negative Kritik hindurchgehen und aufgehen in die Philosophie; nicht so
die Religion." — Das ist doch wunderlich! Einmal hat es die Kritik der
Dogmatik nicht mit der Religion an sich, sondern mit der Religion, wie sie
in der Form der Vorstellung erscheint, zu thun; die Religion an sich gehört
in ein andres Capitel. Sodann versteht man nicht recht den Zusammenhang
dieser Behauptung mit den vorhergehenden Deductionen, aus denen sich doch
ergab, daß jeder Versuch, die Dogmen in Philosopheme zu übersetzen, an sei¬
ner innern Unmöglichkeit scheitern mußte.

Dagegen stimmen wir mit dem, was über Feuerbach gesagt wird, voll¬
ständig überein. „Es ist in Feuerbach ein gewaltiger Durchbruch der Sinn¬
lichkeit, des Anschauungsvermögens, der Leidenschaft, des ganzen lebensvollen
und genußbedürftigen Menschen durch die unerträgliche Alleinherrschaft der Logik
eingetreten____ Er selbst hat lange die Fesseln der Logik getragen und schleudert
sie nun von sich mit der Leidenschaft eines Rasenden. Er sieht überall Be¬
schränkung der Natur, Unnatur, falschen Spiritualismus, Idealismus u. s. w."
— Sehr sein ist namentlich der Widerspruch entwickelt, der in Feuerbach selbst
zwischen dem künstlich anerzogenen subjectiven Idealismus und dem Naturalis-


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[0186] „Die ganze Dogmatik", sagt er, „erscheint als ein innerer Bildungs- und Zerstörungsproceß, als ein resultatloses Entstehen und Vergehen, wobei nament¬ lich alle Erscheinungen der sich rückbildenden Metamorphose, die versteckten Widersprüche, die allmälige Zernagung aller festen Fäden des Dogma durch den Zweifel mit erschreckender Wahrheit vorgeführt werden." „Es zeigt sich, wie seine Kritik eine nur auflösende, das Resultat ein nur negatives bleibt. Seine Dogmatik ist gar keine Dogmatik, sondern nur eine Kritik der einzelnen Dogmen.....Die Kritik ist hoffnungslos blasirt, angefressen von dem aus¬ dörrenden Geist der hegelschen Philosophie, ohne alle Frische und Tapferkeit einer eignen und positiven persönlichen Ueberzeugung, ohne die Kraft lebendiger, durch alle Zerstörungen hindurchschauender Intuition!" Das ist im höchsten Grade ungerecht. Strauß wollte ja gar keine Dogmatik schreiben, sondern nur einen Nachweis von dem allmäligen Umbildungsproceß der Dogmen aus der Form der Vorstellung in die Form des Begriffs, bei welchem Proceß ihr inneres Wesen verloren ging. Wenn seine Deduction falsch ist, so darf das nicht durch Vorwürfe gegen seinen Muth, an dem eS ihm wahrhaftig nicht fehlt, sondern'durch wissenschaftliche Gründe nachgewiesen werden. Ebenso un¬ gerecht ist der folgende Vorwurf. „Der Grundirrthum ist der, daß die Reli¬ gion mit der religiösen Vorstellung identificirt wird. Die religiöse Vorstellung ist aber nichts, als die unvollkommenste, die der großen Masse angehörende Form des Wissens von der Religion. Diese unreine, äußerliche, dualistische Form des Wissens soll aufgehoben werden in die höhere, in die wahrhaft wissenschaftliche, die philosophische. Die religiöse Vorstellung soll also durch die negative Kritik hindurchgehen und aufgehen in die Philosophie; nicht so die Religion." — Das ist doch wunderlich! Einmal hat es die Kritik der Dogmatik nicht mit der Religion an sich, sondern mit der Religion, wie sie in der Form der Vorstellung erscheint, zu thun; die Religion an sich gehört in ein andres Capitel. Sodann versteht man nicht recht den Zusammenhang dieser Behauptung mit den vorhergehenden Deductionen, aus denen sich doch ergab, daß jeder Versuch, die Dogmen in Philosopheme zu übersetzen, an sei¬ ner innern Unmöglichkeit scheitern mußte. Dagegen stimmen wir mit dem, was über Feuerbach gesagt wird, voll¬ ständig überein. „Es ist in Feuerbach ein gewaltiger Durchbruch der Sinn¬ lichkeit, des Anschauungsvermögens, der Leidenschaft, des ganzen lebensvollen und genußbedürftigen Menschen durch die unerträgliche Alleinherrschaft der Logik eingetreten____ Er selbst hat lange die Fesseln der Logik getragen und schleudert sie nun von sich mit der Leidenschaft eines Rasenden. Er sieht überall Be¬ schränkung der Natur, Unnatur, falschen Spiritualismus, Idealismus u. s. w." — Sehr sein ist namentlich der Widerspruch entwickelt, der in Feuerbach selbst zwischen dem künstlich anerzogenen subjectiven Idealismus und dem Naturalis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/186>, abgerufen am 05.07.2024.