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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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nur der Rechenmeister ist, welcher die einzelnen Posten aufführt nud zusammen¬
zählt, lag das Jmponirende oder vielleicht richtiger das Erschreckende des Buchs.
Es stand mit der harten Gleichgültigkeit des Schicksals da, es war die Schlu߬
rechnung gezogen in der Kritik der evangelischen Geschichte und die Inventur
lautete auf: Bankrott. -- Der speculative Ausgangspunkt ist der der Imma¬
nenz von Gott und Welt, welche für die Wunder, die äußerlichen und
aphoristischen Eingriffe in die Welt keinen Raum übrigläßt. Nur ein andrer
Ausdruck für diesen Gedanken war die Bestimmung, daß die Menschwerdung
Gottes in Christo nicht eine einzige sei, sondern eine allgemeine, daß alles,
was von ihm als Einzelnem ausgesagt werde, von dem Gattungsbegriff der
Menschheit gelte. Das kritische Resultat ist das negative, daß die Evangelien
nicht das sind, wofür sie sich ausgeben, daß in dieser sogenannten Geschichte
alles unklar und widerspruchsvoll ist, daß der Mythus an allen Punkten sie
ergriffen hat. Frühere Ausleger hatten bereits den Mythus zur Erklärung be¬
nutzt, aber nur für Nebendinge und das Außenwerk der Geschichte. Es zeigt
sich dagegen bei unbefangener Betrachtung der verschiedenen Evangelien, daß
das Zeugniß des einen so viel oder so wenig werth ist, wie des andern. Nir¬
gend vermögen wir festen historischen Boden zu gewinnen. Der Schlüssel
dieser Mythologie ist das alte Testament mit seinen messianischen Vorstellungen
und Hoffnungen: das Bild des wirklichen Messias wurde durch die Züge des
geweissagtcn und gehofften ausgeschmückt. Als historischer Kern bleibt nur
das übrig, was Jesus gesprochen.

Unter den Gegnern, die augenblicklich in Masse auftraten, hob Steude
in Tübingen die Bedeutung des Historischen im Leben Jesu für die ganze Ent>
Wicklung der Kirche hervor. Es sei unbegreiflich, daß ein gekreuzigter Jude
die christliche Kirche gestiftet habe. Strauß replicirte daraus, es sei vielmehr
schlechthin unbegreiflich, wie die Juden einen Mann, der am hellen lichten Tage
so ungeheure Wunder that, kreuzigen konnten.

Die neue Orthodoxie erklärte Strauß für eine der erfreulichsten Erschei¬
nungen auf dem Gebiet der neuen theologischen Literatur, weil sie der volle
und unzweideutige Ausdruck alles bis dahin nur noch unreifen Unglaubens sei.
Nur in völliger Umkehr von diesem Wege, nur in der Unterwerfung unter
den Buchstaben der Schrift, nur in der Annahme ihrer buchstäblichen Echtheit
sei Rettung. Die Evangelische Kirchenzeitung sagte von Strauß, er hab? daS
Herz des Leviathan, so hart wie ein Stein und so sest wie ein Stück vom
untersten Mühlstein, und wenn er nicht ausdrücklich des Heiligen Spotte, so
schwebe ihm doch immer der Spott auf den Lippen. Er laste mit Ruhe und
Kaltblütigkeit den Gesalbten des Herrn an und seinem Auge entquelle nicht
einmal die Quelle der Wehmuth.

Wir übergehen die weitern Gegner und Fortsetzer der Straußfeder Kritik


nur der Rechenmeister ist, welcher die einzelnen Posten aufführt nud zusammen¬
zählt, lag das Jmponirende oder vielleicht richtiger das Erschreckende des Buchs.
Es stand mit der harten Gleichgültigkeit des Schicksals da, es war die Schlu߬
rechnung gezogen in der Kritik der evangelischen Geschichte und die Inventur
lautete auf: Bankrott. — Der speculative Ausgangspunkt ist der der Imma¬
nenz von Gott und Welt, welche für die Wunder, die äußerlichen und
aphoristischen Eingriffe in die Welt keinen Raum übrigläßt. Nur ein andrer
Ausdruck für diesen Gedanken war die Bestimmung, daß die Menschwerdung
Gottes in Christo nicht eine einzige sei, sondern eine allgemeine, daß alles,
was von ihm als Einzelnem ausgesagt werde, von dem Gattungsbegriff der
Menschheit gelte. Das kritische Resultat ist das negative, daß die Evangelien
nicht das sind, wofür sie sich ausgeben, daß in dieser sogenannten Geschichte
alles unklar und widerspruchsvoll ist, daß der Mythus an allen Punkten sie
ergriffen hat. Frühere Ausleger hatten bereits den Mythus zur Erklärung be¬
nutzt, aber nur für Nebendinge und das Außenwerk der Geschichte. Es zeigt
sich dagegen bei unbefangener Betrachtung der verschiedenen Evangelien, daß
das Zeugniß des einen so viel oder so wenig werth ist, wie des andern. Nir¬
gend vermögen wir festen historischen Boden zu gewinnen. Der Schlüssel
dieser Mythologie ist das alte Testament mit seinen messianischen Vorstellungen
und Hoffnungen: das Bild des wirklichen Messias wurde durch die Züge des
geweissagtcn und gehofften ausgeschmückt. Als historischer Kern bleibt nur
das übrig, was Jesus gesprochen.

Unter den Gegnern, die augenblicklich in Masse auftraten, hob Steude
in Tübingen die Bedeutung des Historischen im Leben Jesu für die ganze Ent>
Wicklung der Kirche hervor. Es sei unbegreiflich, daß ein gekreuzigter Jude
die christliche Kirche gestiftet habe. Strauß replicirte daraus, es sei vielmehr
schlechthin unbegreiflich, wie die Juden einen Mann, der am hellen lichten Tage
so ungeheure Wunder that, kreuzigen konnten.

Die neue Orthodoxie erklärte Strauß für eine der erfreulichsten Erschei¬
nungen auf dem Gebiet der neuen theologischen Literatur, weil sie der volle
und unzweideutige Ausdruck alles bis dahin nur noch unreifen Unglaubens sei.
Nur in völliger Umkehr von diesem Wege, nur in der Unterwerfung unter
den Buchstaben der Schrift, nur in der Annahme ihrer buchstäblichen Echtheit
sei Rettung. Die Evangelische Kirchenzeitung sagte von Strauß, er hab? daS
Herz des Leviathan, so hart wie ein Stein und so sest wie ein Stück vom
untersten Mühlstein, und wenn er nicht ausdrücklich des Heiligen Spotte, so
schwebe ihm doch immer der Spott auf den Lippen. Er laste mit Ruhe und
Kaltblütigkeit den Gesalbten des Herrn an und seinem Auge entquelle nicht
einmal die Quelle der Wehmuth.

Wir übergehen die weitern Gegner und Fortsetzer der Straußfeder Kritik


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/183>, abgerufen am 27.07.2024.