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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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war ein Streben nach Volkstümlichkeit, daß sie ein recht massives, derbes
Christenthum im Sinne Luthers versuchten. Ihnen erschien diese ganze Theo¬
logie zu spiritualistisch, zu dünn und fein gespitzt, zu gefühlig und unbestimmt,
daß sie wol dem Gebildeten und Geistreichen, nicht aber dem realistischen Sinn
des Volks zugemuthet werden dürfe; und daraufkam es doch grade an, das
Volk in Masse wieder mit Religion zu erfüllen. Bei einzelnen Repräsentanten
jenes volkstümlichen Bedürfnisses, namentlich bei Claus Harms, war die
Religion echt und ursprünglich, sehr bald mischten sich aber unreine Elemente
dazu, vor allem der immer mehr um sich greifende Restaurationstrieb. Wie
viel bequemer war es, die alten Fundamente aus dem Schutt hervorzusuchen,
auf den Symbolen der Reformationszeit den kirchlichen Bau aufzurichten, als
ihm einen tief und sicher gegründeten Unterbau zu geben! -- Der Fortschritt
der modernen Orthodoxie gegen die alte war die Hereinziehung des Gemüths-
lebens in den Wortglauben, während in dem früheren Pietismus sich beide
Richtungen getrennt hatten. Dagegen ist die moderne Orthodoxie überall
durchzogen von den Gedanken und Anschauungen der Gegenwart, sie ist
angefressen von dem Gift der Philosophie, welche sie bekämpft und während
sie sie im Innern verabscheut, schmückt sie sich mit den Formen ihrer Bildung.
Namentlich entlehnt sie von ihr die Verachtungsphrasen gegen den flachen
Rationalismus. -- Aus dieser unmittelbaren Beziehung auf die Bildung er¬
klärt sich auch der fanatische Haß gegen dieselbe. Alle großen und classischen
Producte der Kunst und Wissenschaft, an denen sich der deutsche Geist seit
einem halben Jahrhundert erhoben, sollten in den Staub getreten, sie sollten
vom Standpunkt der kirchlichen Erbsündenlehre beurtheilt und dadurch in ihrem
wahren Werth als glänzende Laster erkannt werden. -- Der Unterschied
gegen den frühern Supranaturalismus trat namentlich in der scharfen Be¬
tonung zweier Punkte hervor: der Lehre von der völligen Verderbniß der
menschlichen Natur, in welcher nicht einmal die Empfänglichkeit für das Gött¬
liche übriggeblieben und von der völligen Verfinsterung der menschlichen Ver¬
nunft, die unfähig sei, göttliche Dinge zu erfassen. Damit hing zusammen
das unbedingte Festhalten am Buchstaben der Schrift, der Haß und die Pro-
scription aller historischen Kritik. -- Zuletzt wurde von den Vertretern der
Kirche namentlich die juristische Seite hervorgekehrt und der Grundsatz: sei
im Besitz und du bist im Recht den Nationalisten entgegengehalten.

Der bisherigen Halbheit in der Kritik wurde ein Ende gemacht durch das
Leben Jesu von Strauß. Es laufen hier alle bisherigen kritischen Forschungen
zusammen, aber sie werden zugleich vervollständigt, geschärft, zugespitzt, zusam¬
mengefaßt, auf einen Grundgedanken zurückgeführt. In dieser Nothwendigkeit des
ganzen Verfahrens, das sich wie ein Naturproceß vollzieht, in dieser affectlosen
Objectivität, mit.welcher der Verfasser gleichsam zurücktritt vor seinem Werk und


war ein Streben nach Volkstümlichkeit, daß sie ein recht massives, derbes
Christenthum im Sinne Luthers versuchten. Ihnen erschien diese ganze Theo¬
logie zu spiritualistisch, zu dünn und fein gespitzt, zu gefühlig und unbestimmt,
daß sie wol dem Gebildeten und Geistreichen, nicht aber dem realistischen Sinn
des Volks zugemuthet werden dürfe; und daraufkam es doch grade an, das
Volk in Masse wieder mit Religion zu erfüllen. Bei einzelnen Repräsentanten
jenes volkstümlichen Bedürfnisses, namentlich bei Claus Harms, war die
Religion echt und ursprünglich, sehr bald mischten sich aber unreine Elemente
dazu, vor allem der immer mehr um sich greifende Restaurationstrieb. Wie
viel bequemer war es, die alten Fundamente aus dem Schutt hervorzusuchen,
auf den Symbolen der Reformationszeit den kirchlichen Bau aufzurichten, als
ihm einen tief und sicher gegründeten Unterbau zu geben! — Der Fortschritt
der modernen Orthodoxie gegen die alte war die Hereinziehung des Gemüths-
lebens in den Wortglauben, während in dem früheren Pietismus sich beide
Richtungen getrennt hatten. Dagegen ist die moderne Orthodoxie überall
durchzogen von den Gedanken und Anschauungen der Gegenwart, sie ist
angefressen von dem Gift der Philosophie, welche sie bekämpft und während
sie sie im Innern verabscheut, schmückt sie sich mit den Formen ihrer Bildung.
Namentlich entlehnt sie von ihr die Verachtungsphrasen gegen den flachen
Rationalismus. — Aus dieser unmittelbaren Beziehung auf die Bildung er¬
klärt sich auch der fanatische Haß gegen dieselbe. Alle großen und classischen
Producte der Kunst und Wissenschaft, an denen sich der deutsche Geist seit
einem halben Jahrhundert erhoben, sollten in den Staub getreten, sie sollten
vom Standpunkt der kirchlichen Erbsündenlehre beurtheilt und dadurch in ihrem
wahren Werth als glänzende Laster erkannt werden. — Der Unterschied
gegen den frühern Supranaturalismus trat namentlich in der scharfen Be¬
tonung zweier Punkte hervor: der Lehre von der völligen Verderbniß der
menschlichen Natur, in welcher nicht einmal die Empfänglichkeit für das Gött¬
liche übriggeblieben und von der völligen Verfinsterung der menschlichen Ver¬
nunft, die unfähig sei, göttliche Dinge zu erfassen. Damit hing zusammen
das unbedingte Festhalten am Buchstaben der Schrift, der Haß und die Pro-
scription aller historischen Kritik. — Zuletzt wurde von den Vertretern der
Kirche namentlich die juristische Seite hervorgekehrt und der Grundsatz: sei
im Besitz und du bist im Recht den Nationalisten entgegengehalten.

Der bisherigen Halbheit in der Kritik wurde ein Ende gemacht durch das
Leben Jesu von Strauß. Es laufen hier alle bisherigen kritischen Forschungen
zusammen, aber sie werden zugleich vervollständigt, geschärft, zugespitzt, zusam¬
mengefaßt, auf einen Grundgedanken zurückgeführt. In dieser Nothwendigkeit des
ganzen Verfahrens, das sich wie ein Naturproceß vollzieht, in dieser affectlosen
Objectivität, mit.welcher der Verfasser gleichsam zurücktritt vor seinem Werk und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/182>, abgerufen am 27.06.2024.