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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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harte sich zugleich eine tiefe Innerlichkeit, in welche das freie dialektische Spiel
immer wieder zunickgelenkt wurde. Es war in ihm eine seltene Vereinigung
von tiefer und sublimer Religiosität und unendlich beweglicher Verstandes-
reflerion." -- Man kann sagen, daß Hegel die alte Orthodoxie vergeistigte,
Schleiermacher den alten Pietismus. Darum ging der erste vorzugsweise auf
die spekulativen Dogmen aus, die Dreieinigkeit u. s. w., während Schleier¬
macher den ethischen Inhalt der Erlösung in den Vordergrund stellte. Sämmt¬
liche Richtungen der Theologie wurden von ihm befruchtet, die äußerste Rechte
wie die äußerste Linke, Tholuck wie Strauß. Auch wo sie gegen ihn kämpften,
kämpften sie mit seinen Waffen. -- Fast ebenso wichtig, wie sein Idealismus
der religiösen Empfindung wurde seine Kritik der biblischen Geschichte. Man
hatte in der rationalistischen Zeit vergebens sich abgemüht, die Widersprüche wie
den Zusammenhang der verschiedenen Evangelien genügend zu erklären. Den
wichtigsten Fortschritt hatte Gieseler gemacht, welcher an Stelle des schriftlichen
Urevangeliums ein mündliches setzte; eine Annahme, die'um so größern An¬
klang fand, als sie mit der wolfschen Analyse des Homer sich nahe berührte.
Auch Schleiermacher geht aus von einer mündlichen Ueberlieferung, die aber
nicht durch apostolische Leitung, sondern absichts- und reflerionSlos entstand.
Sie bildete sich gleich zu Anfang in zwei Hauptmassen, dem Kreis von Gali-
läa und von Jerusalem. Diese mündliche Ueberlieferung wurde bald firirt
durch Aufzeichnung einzelner Theile. Aus der verschiedenartigen Verbindung
dieser kleinen Schriftstücke (Diegesen) ist die Differenz unsrer gegenwärtigen
Evangelien zu erklären. Die Verfasser derselben sind nur Sammler und Be¬
arbeiter des vorgefundenen Materials, keiner von ihnen hat ans eigner An¬
schauung geschöpft. Im Ganzen liegen die Thatsachen zu Grunde, manche
Einzelnheiten dagegen sind mythisch, theils wegen der Trübheit der Quellen,
theils aus Wundersucht. Dagegen steht das Evangelium Johannes auf histo¬
rischem Boden. Hier haben wir nicht eine spätere Zusammenfügung münd¬
licher und schriftlicher Ueberlieferungen, sondern Selbsterlebtes. Der Augen-
Znige tritt uns überall mit klarer Lebendigkeit entgegen. -- Diese Kritik, die
gegen die apostolischen Briefe mit ebenso großer Rücksichtslosigkeit ausgeübt
wurde, als gegen die platonischen Dialoge, fand ihren Fortsetzer und Vervoll-
stcmdiger in De Wette. Der Charakter seines kritischen Verfahrens ist der des
parteilosen, ruhigen Erwägens, das häufig ohne irgend einen Abschluß in
Zweifel stehen bleibt.

sowol Hegel als Schleiermacher standen auf dem Boden der classischen
"sthetischen Bildung, obgleich sich namentlich bei dem letztem der Einfluß der
'unern sittlichen Wiedergeburt des Volks lebhaft geltend macht. Entschiedener
trat dieser Einfluß bei der Wiederherstellung der Orthodoxie hervor. Ein großer
Theil der modernen Rechtgläubigen war in der Burschenschaft gebildet. Es


harte sich zugleich eine tiefe Innerlichkeit, in welche das freie dialektische Spiel
immer wieder zunickgelenkt wurde. Es war in ihm eine seltene Vereinigung
von tiefer und sublimer Religiosität und unendlich beweglicher Verstandes-
reflerion." — Man kann sagen, daß Hegel die alte Orthodoxie vergeistigte,
Schleiermacher den alten Pietismus. Darum ging der erste vorzugsweise auf
die spekulativen Dogmen aus, die Dreieinigkeit u. s. w., während Schleier¬
macher den ethischen Inhalt der Erlösung in den Vordergrund stellte. Sämmt¬
liche Richtungen der Theologie wurden von ihm befruchtet, die äußerste Rechte
wie die äußerste Linke, Tholuck wie Strauß. Auch wo sie gegen ihn kämpften,
kämpften sie mit seinen Waffen. — Fast ebenso wichtig, wie sein Idealismus
der religiösen Empfindung wurde seine Kritik der biblischen Geschichte. Man
hatte in der rationalistischen Zeit vergebens sich abgemüht, die Widersprüche wie
den Zusammenhang der verschiedenen Evangelien genügend zu erklären. Den
wichtigsten Fortschritt hatte Gieseler gemacht, welcher an Stelle des schriftlichen
Urevangeliums ein mündliches setzte; eine Annahme, die'um so größern An¬
klang fand, als sie mit der wolfschen Analyse des Homer sich nahe berührte.
Auch Schleiermacher geht aus von einer mündlichen Ueberlieferung, die aber
nicht durch apostolische Leitung, sondern absichts- und reflerionSlos entstand.
Sie bildete sich gleich zu Anfang in zwei Hauptmassen, dem Kreis von Gali-
läa und von Jerusalem. Diese mündliche Ueberlieferung wurde bald firirt
durch Aufzeichnung einzelner Theile. Aus der verschiedenartigen Verbindung
dieser kleinen Schriftstücke (Diegesen) ist die Differenz unsrer gegenwärtigen
Evangelien zu erklären. Die Verfasser derselben sind nur Sammler und Be¬
arbeiter des vorgefundenen Materials, keiner von ihnen hat ans eigner An¬
schauung geschöpft. Im Ganzen liegen die Thatsachen zu Grunde, manche
Einzelnheiten dagegen sind mythisch, theils wegen der Trübheit der Quellen,
theils aus Wundersucht. Dagegen steht das Evangelium Johannes auf histo¬
rischem Boden. Hier haben wir nicht eine spätere Zusammenfügung münd¬
licher und schriftlicher Ueberlieferungen, sondern Selbsterlebtes. Der Augen-
Znige tritt uns überall mit klarer Lebendigkeit entgegen. — Diese Kritik, die
gegen die apostolischen Briefe mit ebenso großer Rücksichtslosigkeit ausgeübt
wurde, als gegen die platonischen Dialoge, fand ihren Fortsetzer und Vervoll-
stcmdiger in De Wette. Der Charakter seines kritischen Verfahrens ist der des
parteilosen, ruhigen Erwägens, das häufig ohne irgend einen Abschluß in
Zweifel stehen bleibt.

sowol Hegel als Schleiermacher standen auf dem Boden der classischen
"sthetischen Bildung, obgleich sich namentlich bei dem letztem der Einfluß der
'unern sittlichen Wiedergeburt des Volks lebhaft geltend macht. Entschiedener
trat dieser Einfluß bei der Wiederherstellung der Orthodoxie hervor. Ein großer
Theil der modernen Rechtgläubigen war in der Burschenschaft gebildet. Es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/181>, abgerufen am 27.07.2024.