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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Untersuchungen irren läßt. Diese Mikroskopie ist die Krankheit unsrer heutigen
Wissenschaft; man kann von ihr im vollsten Sinn des Worts sagen, daß sie
den Wald vor Bäumen nicht sieht.

Das Buch ist auch für Deutschland von hohem Werth; fast Wort für
Wort lassen sich die, darin vertretenen Grundsätze auf unsre eignen Zustände
anwenden, und es sind nicht blos die Ansichten, sondern vor allem der feste,
hoffnungsvolle, männliche Ton, was uns anzieht und bewegt. -- Man be¬
denke nur, von welcher Seite diese edle, kräftige, aufgeklärte Vertheidigung
des Liberalismus ausgeht! Herr von Montalembert gilt als einer der Haupt-
sührer der ultramontanen Partei; er sucht seine Ansichten in dieser Beziehung
auch gegen das Ende des Buchs hin geltend zu machen, er findet den Grund
der britischen Größe zum Theil darin, daß'die Spuren der alten katholischen
Periode sich noch in den neuen Einrichtungen des Landes erhalten haben, und
er glaubt ein allmäljgcs Zurückstreben des englischen Volkes zum Katholicis¬
mus wahrzunehmen; aber die Weisungen, die er seinen Glaubensbrüdern gibt,
sind durchaus verständig. Er' ermahnt sie, sich von den Traditionen des. 16.
und 17. Jahrhunderts mit Abscheu abzuwenden, überall die Fahne der Glaubens¬
freiheit aufzustecken, niemals die nationale Sache der religiösen zu opfern,
und sich immer zuerst daran zu erinnern, daß sie Engländer sind, ehe sie für
ihre Kirche wirken.

Auch in dieser Auffassung liegen noch immer viele Illusionen. Die ka¬
tholische Kirche hat stets die Fahne der Freiheit aufgesteckt, wo sie in der
Minorität war; sobald man ihr die Gewalt in die Hände gab, wurde sie in¬
tolerant. Die Siege der katholischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert sind
nicht, wie Montalembert meint, durch die stillwirkende Kraft des Geistes,
sondern überall durch die rohe Gewalt erfolgt. -- Indeß es ist über jene Ge¬
schichten Gras gewachsen, und wir wollen uns freuen, daß im Schoß der
uns feindlichen Kirche dasselbe Streben sich geltend macht, welches unser Leit¬
stern ist. Wenn die beiden Kirchen miteinander wetteifern, den Völkern Frei¬
heit und Recht zu bringen, ihre natürliche Entwicklung zu fördern, sie mit dem
Erdenleben auszusöhnen, so wird aus diesem Wettstreit eine reifere Frucht her¬
vorgehen, als aus dem frühern Mißbrauch materieller Mittel zu angeblich
heiligen Zwecken. Nur müssen die Vertreter der Kirche nickt vergessen, daß
bis jetzt die Wirklichkeit ihren Idealen noch nicht entspricht, daß die katholische
Kirche, wo sie sich in ihrer vollen Kraft entfaltet, wie in Italien und neuer-
drngS in Oestreich, noch immer freiheitsfeindlich ist. Ehe daher die Herren
Montalembert und Reichensperger unternehmen, im Namen der Freiheit für ihre
Kirche Propaganda zu machen, mögen sie erst dahin zu wirken suchen, daß inner¬
halb ihrer Kirche das Princip, das sie vertreten, zur wirklichen Geltung komme-




Untersuchungen irren läßt. Diese Mikroskopie ist die Krankheit unsrer heutigen
Wissenschaft; man kann von ihr im vollsten Sinn des Worts sagen, daß sie
den Wald vor Bäumen nicht sieht.

Das Buch ist auch für Deutschland von hohem Werth; fast Wort für
Wort lassen sich die, darin vertretenen Grundsätze auf unsre eignen Zustände
anwenden, und es sind nicht blos die Ansichten, sondern vor allem der feste,
hoffnungsvolle, männliche Ton, was uns anzieht und bewegt. — Man be¬
denke nur, von welcher Seite diese edle, kräftige, aufgeklärte Vertheidigung
des Liberalismus ausgeht! Herr von Montalembert gilt als einer der Haupt-
sührer der ultramontanen Partei; er sucht seine Ansichten in dieser Beziehung
auch gegen das Ende des Buchs hin geltend zu machen, er findet den Grund
der britischen Größe zum Theil darin, daß'die Spuren der alten katholischen
Periode sich noch in den neuen Einrichtungen des Landes erhalten haben, und
er glaubt ein allmäljgcs Zurückstreben des englischen Volkes zum Katholicis¬
mus wahrzunehmen; aber die Weisungen, die er seinen Glaubensbrüdern gibt,
sind durchaus verständig. Er' ermahnt sie, sich von den Traditionen des. 16.
und 17. Jahrhunderts mit Abscheu abzuwenden, überall die Fahne der Glaubens¬
freiheit aufzustecken, niemals die nationale Sache der religiösen zu opfern,
und sich immer zuerst daran zu erinnern, daß sie Engländer sind, ehe sie für
ihre Kirche wirken.

Auch in dieser Auffassung liegen noch immer viele Illusionen. Die ka¬
tholische Kirche hat stets die Fahne der Freiheit aufgesteckt, wo sie in der
Minorität war; sobald man ihr die Gewalt in die Hände gab, wurde sie in¬
tolerant. Die Siege der katholischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert sind
nicht, wie Montalembert meint, durch die stillwirkende Kraft des Geistes,
sondern überall durch die rohe Gewalt erfolgt. — Indeß es ist über jene Ge¬
schichten Gras gewachsen, und wir wollen uns freuen, daß im Schoß der
uns feindlichen Kirche dasselbe Streben sich geltend macht, welches unser Leit¬
stern ist. Wenn die beiden Kirchen miteinander wetteifern, den Völkern Frei¬
heit und Recht zu bringen, ihre natürliche Entwicklung zu fördern, sie mit dem
Erdenleben auszusöhnen, so wird aus diesem Wettstreit eine reifere Frucht her¬
vorgehen, als aus dem frühern Mißbrauch materieller Mittel zu angeblich
heiligen Zwecken. Nur müssen die Vertreter der Kirche nickt vergessen, daß
bis jetzt die Wirklichkeit ihren Idealen noch nicht entspricht, daß die katholische
Kirche, wo sie sich in ihrer vollen Kraft entfaltet, wie in Italien und neuer-
drngS in Oestreich, noch immer freiheitsfeindlich ist. Ehe daher die Herren
Montalembert und Reichensperger unternehmen, im Namen der Freiheit für ihre
Kirche Propaganda zu machen, mögen sie erst dahin zu wirken suchen, daß inner¬
halb ihrer Kirche das Princip, das sie vertreten, zur wirklichen Geltung komme-




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/158>, abgerufen am 27.06.2024.